Wie deutsch ist das denn?!
erscheinen gilt bereits als unhöflich: Wer sich zu benehmen weiß, ist in aller Regel fünf oder zehn Minuten vorher da. Und schon bei fünf Minuten Terminüberschreitung wird es hochgradig peinlich– dann gebietet die Etikette unbedingt eine Entschuldigung. Manche Betriebe stellen ihre Uhren sogar um fünf Minuten vor, um diese Gefahr bei ihren Mitarbeitern gar nicht erst aufkommen zu lassen. So gesehen, sind die Japaner die wahren Preußen dieser Welt.
Daher wundert es nicht, dass auch japanische Fluglinien und Flughäfen in globalen Vergleichsstatistiken regelmäßig auf den vorderen Plätzen landen. Der amerikanische Dienstleister Flightstats, der alljährlich die Pünktlichkeit aller Airlines weltweit auswertet, listete Japan Airlines ( JAL ) 2012 zum dritten Mal in Folge als Spitzenreiter auf, und All Nippon Airways ( ANA ) lag nur knapp dahinter: Erstere schaffte eine Pünktlichkeitsquote von über 90 Prozent, ANA erreichte immerhin noch über 88 Prozent. Unsere stolze Kranich-Linie: abgeschlagen auf Platz zehn– wohingegen sich die schwedische SAS mit den Japanern ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefert und damit immerhin die pünktlichste internationale Airline Europas ist.
Nummer eins der innereuropäischen Regionalfluglinien war 2012 übrigens die kaum bekannte griechische (!) Gesellschaft Aegean Airlines, dicht gefolgt von der spanischen NAYSA , die im Auftrag von Binter Canarias von Gran Canaria aus operiert. In dieser Kategorie schaffte es als einziger deutscher Konkurrent die Lufthansa-Tochter German Wings in die Top Ten.
Bei den internationalen Airports auf Platz eins der Weltrangliste: Seattle-Tacoma im US -Staat Washington. Als pünktlichster deutscher Konkurrent rangiert München hier abgeschlagen auf Platz acht. Bei den innerasiatischen Flughäfen haben mit Tokio-Haneda wiederum die Japaner die Nase vorn.
Überhaupt scheint Pünktlichkeit in ganz Ostasien ein beliebter Volkssport zu sein. Als pünktlichste (und nebenbei auch sauberste) U-Bahn der Welt gilt zum Beispiel die Mass Rapid Transit( MRT ) in Singapur. Und die Flughäfen von Singapur, Seoul und Bangkok rangieren in den Hitlisten der internationalen Vergleiche weit oben– ebenso wie deren Luftfahrtgesellschaften. In dieser Liga spielen wir stets nur auf den hinteren Plätzen mit. Mehr noch: Bekanntlich hat es ausgerechnet deutsche Ingenieurs-, Verwaltungs- und Planungskunst geschafft, in Brandenburg den unpünktlichsten Flughafen aller Zeiten in den märkischen Sand zu setzen.
Was also ist los mit uns Deutschen? Vielleicht haben wir uns der Pünktlichkeit einfach etwas entfremdet. Seit dem Wertewandel, der in den späten Sechziger- und Siebzigerjahren stattgefunden hat, scheint sie bei uns keinen so guten Ruf mehr zu genießen wie früher. Eingedenk dessen, dass einige Jahrzehnte zuvor präzise » seit 5:45 Uhr zurückgeschossen « wurde, klebte man ihr folgerichtig das Etikett einer Sekundärtugend auf, die– ebenso wie Disziplin, Fleiß, Treue oder Gehorsam– für sich genommen nicht viel bedeutet. Und etwas davon scheint haften geblieben zu sein, auch wenn zum heutigen deutschen Zeitgeist eher die Einstufung als » uncool « passt. So ergab 2011 eine europäische Vergleichsstudie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), dass nur 18 Prozent der Deutschen bei Verabredungen Wert auf Pünktlichkeit legen. Das Gegenstück dazu sind neben den Österreichern ausgerechnet die oft als schlampig verschrienen Russen und Italiener: Hier waren es jeweils 88 Prozent, die sich für die exakte Einhaltung von Terminen aussprachen.
Eine frühere Studie zeigte, dass auch deutsche Manager bei Geschäftsterminen durchaus mal fünf oder fünfzehn Minuten gerade sein lassen. Woanders wäre das ein Unding. Nicht nur in Japan, sondern auch in China, den USA , der deutschsprachigen Schweiz und den skandinavischen Ländern, ja selbst in Norditalien ist jede Verspätung verpönt– wer sichergehen will, erscheint besser ein paar Minuten zu früh.
Andererseits: Muss es uns Deutsche wirklich bekümmern, dass diese unsere vermeintliche Kardinaltugend offenbar leichte Symptome von Schwindsucht aufweist? Man kann das alles ja auch positiv interpretieren. Wie es aussieht, wird unser Zeitgefühl nicht mehr von preußischem Dalli-dalli und Zackzack dominiert, sondern es gönnt sich heute etwas mehr Gelassenheit. Auch in dieser Beziehung ist Deutschland internationaler geworden. Wir haben mediterrane Einflüsse aufgesogen, können dolce far niente fehlerfrei
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