Wie die Welt endet: Roman (German Edition)
Irgendwann verlangsamten wir unser Tempo zu raschem Gehen, aber wir machten keine Pause und sprachen auch nicht, außer wenn jemand einen Weg durch das Dickicht vorschlug. Joel weinte jetzt– wahrscheinlich hatte er Hunger.
Nach einer Stunde Flucht, als wir uns längst in Sicherheit wähnten, hörten wir hinter uns einen Ruf, dem ein zweiter Ruf antwortete.
» Scheiße«, sagte Colin.
Wir rannten wieder los.
» Woher können die wissen, wo wir hingelaufen sind?«, fragte Colin.
» Sie müssen Spuren lesen können– abgebrochene Zweige, Fußabdrücke«, antwortete Cortez. Damit war die Unterhaltung beendet. Es war mörderisch. Meine Lungen brannten, meine Beine waren wie Gummi. Joel schrie jetzt in Colins Armen, sein Gesicht war rot vor Empörung, weil er so lange und so heftig durchgeschüttelt wurde.
Wir rannten weiter. Erst als es zu dunkeln begann, verfielen wir wieder in Schritttempo.
Ich hörte ein Schniefen hinter mir, und als ich mich umdrehte, sah ich, dass Jeannie weinte. » Ich kann es nicht glauben«, sagte sie. » Jetzt haben wir alles verloren. Wir sind hier draußen und haben gar nichts mehr.«
Niemand antwortete. Es war die Wahrheit, und sie ließ sich nicht beschönigen.
» Was jetzt?«, fragte ich.
» Ich denke, wir sollten uns einen Unterschlupf suchen«, sagte Colin.
Wir bewegten uns in die falsche Richtung– nach Nordwesten, von Savannah fort.
Niedergeschlagen wanderten wir weiter, bis wir zu einer mit Bambus und Kudzu überwucherten Siedlung kamen, oder eigentlich war es eher eine Sackgasse mit einem halben Dutzend Doppelhäusern. Cortez trat die Tür eines Hauses ein, und wir suchten darin Zuflucht.
» Ich glaube, wir sollten nicht bis zum Morgen bleiben«, sagte ich. » Lasst uns eine Stunde ausruhen und dann weitergehen.«
Niemand widersprach, aber ich hörte auch keine Zustimmung. Es gab zwei Schlafzimmer. Cortez schlug vor, die Paare sollten sie nehmen, während wir anderen uns in dem kleinen Wohnzimmer niederließen.
Wir hatten kein Bettzeug, fanden aber in den Schränken Kleidungsstücke, die wir uns nahmen. Inzwischen war es fast dunkel. Phoebe lag zwei Meter entfernt von mir an der Wand, mit einem Stapel T-Shirts in den Armen.
» Es tut mir leid, dass du deine Andenken verloren hast«, sagte ich.
Sie zuckte die Achseln. » Du kannst mir ja eine neue Postkarte kaufen, wenn wir das nächste Mal an einem Supermarkt vorbeikommen.«
» Aber Sir Francis Bacon…« Es sollte munter klingen, kam aber eher kläglich heraus.
Phoebe lächelte grimmig. » Vielleicht schenkt einer von unseren Verfolgern das Schweinchen seinem Kind.« Sie schloss die Augen und atmete so tief, dass es wie ein Seufzer klang. Auf dem Handgelenk hatte sie einen hässlichen Schnitt, aber er war nicht tief. Wahrscheinlich waren es bloß Dornen gewesen.
Obwohl ich so erschöpft war, konnte ich nicht einschlafen. Ich fühlte mich für unsere Notlage verantwortlich. Was Sophia von meiner Tat hielt, wusste ich ja schon, aber ich musste herausfinden, ob die anderen auch fanden, dass ich unverantwortlich oder sogar unrecht gehandelt hatte. Ich stand wieder auf und klopfte bei Colin und Jeannie an die Tür.
Colin hatte sein T-Shirt ausgezogen. Auf seinem Rücken waren, deutlich abgesetzt, zwei Reihen Rippen zu erkennen. Er sah zwar noch nicht aus, als wäre er gerade aus einem Konzentrationslager befreit worden, aber es ging schon in die Richtung.
» Habe ich mich geirrt?«, fragte ich.
Die beiden schauten sich an und entschieden, wer die Frage beantworten sollte.
» Nein«, sagte Colin. » Es war einfach so…« Er suchte nach dem richtigen Wort.
» So wie ein Mord? Meinst du das?«, schlug ich vor. » Aber wenn ich abgewartet hätte, bis wir sicher gewesen wären, dann hätte ich sie wohl kaum noch überraschen können, und dann wären wir jetzt alle tot.«
» Ja, da bin ich deiner Meinung…«, sagte Colin.
Wenn mir jemand damals, als ich achtzehn war, gesagt hätte, ich würde eines Tages darüber diskutieren, ob ich zwei Menschen ermordet oder aber in Notwehr erschossen hätte, wäre ich äußerst erstaunt gewesen.
» Jasper, wir kritisieren dich nicht«, unterbrach Jeannie. » Du hast uns gerettet, und du hast unseren Sohn gerettet, und wir würden alles tun, um Joel zu beschützen. Wir haben bloß gestaunt, dass du es warst. Wenn Cortez das getan hätte, wären wir wohl nicht schockiert gewesen.«
» Genau«, bestätigte Colin.
» Verständlich.« Ich nickte und wandte mich zum Gehen.
»
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