Wie die Welt endet: Roman (German Edition)
Auch schüchterne, eher linkische Intellektuelle machten mich richtig an.
Als Victoria verschwand, lud ich mir aus reiner Höflichkeit ihr Bio-Video herunter. Ich würde es mir wahrscheinlich gar nicht ansehen, aber sie schien nett zu sein, und ich wollte sie nicht kränken. Nur wenige Sekunden später lud sie sich auch mein Video herunter.
Die nächste Frau erschien und unterbrach mein Sinnieren. Sie saß im Rollstuhl.
Bevor ich das erste Mal am Speed-Dating teilgenommen hatte, hatte ich gedacht, die Schwierigkeit würde darin bestehen, intelligent und freundlich und selbstsicher rüberzukommen, und das in nur drei Minuten. Doch noch viel schwieriger war es, Enttäuschung und Desinteresse zu verbergen.
Schon zum dritten Mal bemühte ich mich jetzt, mein krampfhaftes Lächeln beizubehalten, während wir die Begrüßungsfloskeln austauschten.
Maya begrüßte mich mit einer gummiartig ungelenken Handbewegung. Offenbar war sie ein Opfer von Polio-X, das 2023 unsere landesweite Virenhitparade angeführt hatte. Ganz schön mutig, dass sie sich an eine Partnervermittlung gewandt hatte und uns nun allen ein schlechtes Gewissen machte, weil wir sie aufgrund ihrer Behinderung ablehnten. Doch dann rief ich mein Reptilienhirn zur Ordnung und machte mir klar, wie unfair dieser Gedanke war. Maya tat ja niemandem weh. Aber ich konnte sie mir nicht als Partnerin vorstellen, unter keinen Umständen. Ein Rollstuhl war einfach zu belastend. Ich war kein aufopferungsvoller Typ, war nicht bereit, einer Frau den Hintern abzuwischen, wenn sie das brauchte. Das passte einfach nicht zu mir. Vielleicht war ich zu egoistisch und nicht selbstlos genug, um jemals eine wirklich gute Beziehung zu haben. Aber immerhin war ich in dieser Hinsicht ehrlich.
» Du bist also Wirtschaftswissenschaftlerin?«, fragte ich. Ich suchte nach einem Gesprächsthema, mit dem ich uns die Zeit vertreiben und ihr gleichzeitig vermitteln konnte, dass ich sie zwar interessant fand, aber kein Interesse hatte. » Hast du irgendwelche Erkenntnisse über den Stand der Dinge? Was glaubst du, wann die Aktienmärkte sich wieder erholen?« Nicht dass ich auch nur einen müden Cent hätte investieren können.
» Mensch, das sind ja sehr persönliche Fragen.« Ihre Stimme troff vor Sarkasmus– sie hatte meine Absicht durchschaut und stieß mich mit der Nase darauf.
Ich lachte unbehaglich.
» Die erholen sich nicht mehr«, sagte sie. » Es geht nur noch immer weiter abwärts, und dann werden die Märkte völlig zusammenbrechen.«
Wieder lachte ich unbehaglich.
» Du denkst, ich mache Witze«, sagte sie.
» Irgendwann muss es doch mal wieder aufwärts gehen.«
» Nein«, widersprach sie. » Die Dinosaurier sind auch untergegangen.«
» Okay.« Als Nächstes würde sie mir wahrscheinlich was vom Weltuntergang erzählen und fragen, ob ich meinen Frieden mit Jesus Christus gemacht hätte.
» Ich kann sehen, dass du mir nicht glaubst.« Sie deutete auf den Lügendetektor, aber nicht unfreundlich.
» Das ist keine Frage des Glaubens. Ich sehe ja, dass du glaubst, was du sagst, und ich bin sicher, dass du in deinem Beruf gut bist, aber bei so was kann man doch keine sicheren Vorhersagen machen, oder? Mal ganz ehrlich.«
» Alle derzeit noch lebenden Nobelpreisträger unter den Ökonomen sind sich darin einig«, erklärte sie. » Die Wirtschaft bricht langsam zusammen. Erinnerst du dich an die vielen Warnungen vor der globalen Erwärmung, vor der Überbevölkerung, vor der Ausbeutung der Bodenschätze, vor der Abholzung des Regenwaldes, vor radioaktivem Niederschlag, vor der Ausrottung der Wale? Schon mal davon gehört?«
» Hm, ja«, brummte ich. Offenbar hatte ich das falsche Thema gewählt. Wie viel Zeit hatte ich noch mit ihr? Eine Minute und sechsundvierzig Sekunden.
» Diese Warnungen waren ganz ernst gemeint. Milliarden von Menschen werden sterben, bevor das vorbei ist.« Mit dem Kinn deutete sie auf die Anzeige des Lügendetektors. Ich schaute hin. Siebenundneunzig Prozent Ehrlichkeit. Nein, keine Spur von Übertreibung. Milliarden von Menschen, hatte sie gesagt. Die gleiche Einschätzung hatte auch Sebastian abgegeben, als er uns damals überredet hatte, den wuchernden Bambus zu pflanzen und unser Leben damit noch elender zu machen.
Maya hatte ein interessantes Gesicht. Einen großen, breiten Mund, in dem viele Zähne zu sehen waren– was ich immer als Haifischmaul bezeichnet hatte– und unheimlich hellblaue Augen, als hätte jemand einen hauchzarten
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