Wie du Ihr
Als hätten wir es geschafft.
Im Nachhinein ist man natürlich immer klüger. Aber wir waren so lange vorsichtig gewesen. Und immer vorsichtig zu sein ist verdammt anstrengend. Es ist so leicht, sich von den Dingen ablenken zu lassen, an die man eigentlich denken sollte. Daran, wie gefährlich wir für die Männer waren und dass sie genauso verzweifelt waren wie wir. Und dass plötzlich andere Dinge Sinn oder keinen Sinn ergeben, wenn man jemanden getötet hat. Oder daran, wie schnell man vorankommt, wenn man bei Tag durch den Wald geht, noch dazu mit genügend Nahrung. Und wie offensichtlich es war, welchen Weg wir nehmen würden. Wie leicht man den Rauch eines Lagerfeuers sehen konnte.
Sie lauerten uns auf, hörten die ganze Zeit unsere Stimmen und folgten uns in sicherem Abstand. Sie wollten uns alle umbringen, da bin ich mir ganz sicher. Ich weiß nicht, wie sie es tun wollten, aber plötzlich waren sie mitten unter uns. Lisa schrie zuerst auf, dann Jonathan. Es war dunkel und sie waren nur zu dritt. Ich habe keine Ahnung, was genau sie vorhatten. Jedenfalls brach sofort das absolute Chaos aus.
Wenn ich erst mal die Beherrschung verliere, werde ich unglaublich aggressiv. Ich drehe vollkommen durch. Das war schon immer so. Deshalb hat mir Mum eines Tages vorgeschlagen, Judo zu machen. Sie dachte, es würde mir helfen, meine Gefühle besser unter Kontrolle zu haben. Aber das war überhaupt nicht so. Als ich Lisas Schrei hörte, rannte ich zu ihr und trat mit voller Wucht gegen ein Knie. In so einer Situation ist das meiste reine Glückssache. Ich schien Glück zu haben, denn ich hörte ein lautes Stöhnen und jemand sackte zusammen. Links von mir schrie noch jemand, aber keiner von uns. Dann hörte ich schnelle Schritte. Ich sah die vertrauten Umrisse von Lisa, Jonathan und Rebecca, wie sie gemeinsam davonliefen. Ich wollte ihnen gerade nachlaufen, als mich jemand am Fußgelenk packte.
»Ich hab einen!«, rief er.
»Wo?«
»Hier.« Genug Zeit, um seine genaue Position auszumachen und ihm ins Gesicht zu treten. Ich war frei und vollgepumpt mit Adrenalin und Hass. Ich rannte blindlings davon, in der Hoffnung, dass es die richtige Richtung war, das Geräusch schneller Schritte hinter mir.
»Hier lang!«, rief mein Verfolger. »Schnell!«
Sie waren zu dritt und dann kam ihnen auch noch eine Baumwurzel zu Hilfe. Ich stolperte und fiel der Länge nach hin. Jemand drückte mein Gesicht in die nasse Erde und seine Knie in meinen Rücken. Ich spürte seine knochigen Finger an meinem Hals. Er versuchte, mir die Luft abzudrücken. Nicht um mich unten zu halten und zum Aufgeben zu zwingen. Er wollte mich erwürgen.
Ich hatte keine Zeit. Die Welt bewegte sich im Zeitlupentempo, aber nicht langsam genug. In so einer Situation hat man nur eine Chance: Man muss etwas völlig Unerwartetes tun. Man muss den Gegner zu einer Bewegung zwingen, die man ausnutzen kann. Deshalb versuchte ich nicht, ihn abzuwerfen oder seine Hände von meinem Hals zu lösen. Stattdessen griff ich nach seinen Armen und riss ihn nach vorn. Er wehrte sich nicht, weil er nicht damit gerechnet hatte. Als sich sein Gewicht verlagerte, rollte ich mit der Bewegung mit und er rutschte nach unten. Ich lag zwar auf dem Rücken, aber immerhin auf ihm. Ich rammte meinen Ellbogen mit aller Kraft gegen die Stelle, wo ich seinen Hals vermutete. Ein Röcheln. Der Schlag war nicht hart genug, um ihn zu töten, aber hart genug, dass er mich losließ. Seine Kumpels kamen mit ihren Taschenlampen auf mich zugerannt. Ich rollte mich von ihm herunter, drehte mich um und einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke im Schein einer Taschenlampe.
»Da sind sie!«
Ich sah nur seine Augen, voller Hass und Schmerz. Er war es. Der sie umgebracht hatte. Dieses Gesicht werde ich nie vergessen. Er starrte mich an. Der Arzt.
Ich sprang auf und lief los. Die anderen beiden blieben offensichtlich stehen, um nach ihrem Freund zu sehen. Jedenfalls hörte ich sie nicht mehr hinter mir. Ich ging kein Risiko ein. Ich rannte und rannte, bis ich nicht mehr konnte, und lief immer noch weiter. Als ich stehen blieb, war ich so am Ende, dass ich nichts mehr denken konnte.
Als sich mein rasender Herzschlag wieder etwas beruhigt hatte, kehrten die Gedanken zurück. Gedanken voller Hass. Ich hasste ihn so sehr, dass ich am liebsten zurückgelaufen wäre und ihn erledigt hätte. Doch ich wusste, dass ich ihn niemals finden würde. Ich hasste ihn für das, was er Ms Jenkins angetan hatte. Für
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