Wie ein boser Traum
Zimmergenossinnen das College zu besuchen. Bei den Hochzeiten wollten sie einander jeweils Brautzeugin sein. Patinnen der Kinder. Vielleicht sogar Nachbarn. Ihr ganzes Leben hatten sie während spätabendlicher Telefonate und an Nachmittagen voller Tagträumen gemeinsam entworfen.
Heather würde nichts mehr von alldem erleben und Emily auch nicht. Sie hatte sich zwei Jahre lang an einer kleinen Business School in Birmingham durchgeschlagen, zwischen Phasen ihrer Depression, einem größeren Nervenzusammenbruch und zwei Psychotherapien. Schließlich hatte sie eine Stelle gefunden und war zur Archivleiterin eines medizinischen Forschungszentrums aufgestiegen.
Aber das war’s auch schon gewesen.
Nichts war so gelaufen, wie Emily es geplant hatte. Im Grunde hatte ihr Leben in jener Nacht geendet, fast so wie Heathers. Es gab nur einen Unterschied: Sie lebte noch. Kaum eine Nacht verging, in der sie nicht wach im Bett lag und darüber nachgrübelte. Oder sich fragte, was Heather ihr in jener Nacht wohl hatte erzählen wollen. Es gibt da etwas, worüber wir reden müssen, wenn du zurückkommst … etwas wirklich Wichtiges.
Emily blickte über die trostlose Weite der Grabsteine hinweg. Der Mann, der ihr so vieles geraubt hatte, hatte sich nicht bewegt. Er stand noch immer da wie eine Statue, vor dem Grab seiner Mutter. Weder hatte er sich hingekniet, um sich das Grab genauer anzuschauen, noch hatte er Unkraut gezupft. Nur auf den Grabstein gestarrt, als wartete er auf irgendeine Eingebung.
Seine Mutter war eine zurückhaltende, bescheidene Frau gewesen, sie hatte das gleiche dunkle Haar und die gleichen intensiv blickenden Augen wie ihr Sohn gehabt. Während der Gerichtsverhandlung hatte sie immer wieder gesagt, ihr Sohn könne keinem Menschen etwas zuleide tun. Dass er ein guter Junge sei. Aber niemand hatte ihr geglaubt. Selbst Austins Pflichtverteidiger hatte ihr nicht geglaubt. Er hatte nur getan, wozu das Gericht ihn verpflichtet hatte: einen Mann vor Gericht zu vertreten, der sich sonst keinen Verteidiger hätte leisten können.
Der Richter und die Geschworenen hatten mit der Familie Baker mitgefühlt – mit Emily.
Emily erhob sich. Sie überlegte, ob sie zum Auto zurückgehen sollte, falls Austin sich entschloss, zu gehen, aber er hatte sich immer noch nicht vom Fleck gerührt, also ließ sie es bleiben. Stattdessen beobachtete sie ihn.
Sein Profil hätte aus dem gleichen Stein gemeißelt sein können wie einer dieser Steine, die diese letzten Ruhestätten markierten. Hagere, kantige Gesichtszüge, die lange verbannte Erinnerungen heraufbeschworen. Sie hatte es geliebt, ihn anzuschauen … früher. Kantiges Kinn, abgemildert durch volle Lippen, die meist zu einem frechen Grinsen verzogen waren. Augen, die schalkhaft und auffordernd blitzten. Die Art, wie er ihren Namen ausgesprochen
hatte, in diesem beschwingten Ton, der sie in jeder Hinsicht verlockt hatte.
»Es vergeht kein Tag, an dem sie mir nicht fehlt.«
Emily drehte sich zu der Stimme um. Troy Baker, Heathers Bruder, stellte sich neben sie. Heiße Schuld- und Schamgefühle überfielen sie, so als könnte Troy merken, dass sie sich diese Gedanken auch nur eine Sekunde lang gestattet hatte.
»Troy, du hast mich ja zu Tode erschreckt.«
Er umarmte sie. Emily ignorierte ihre kribbelnde Nervosität und erwiderte die Umarmung ebenso fest.
»Tut mir leid, Emily.« Er trat einen Schritt zurück und blickte auf das Grab seiner Schwester. »Meine Familie hat mir gesagt, was du während der Bewährungsanhörung ausgesagt hast.« Wieder sah er sie an. »Ich weiß das mehr zu schätzen, als du dir denken kannst. Ich konnte nicht dort sein … Ich wusste ja, was diese Dreckskerle vorhatten.«
Sie räusperte sich, um das unangenehme Gefühl im Hals loszuwerden. »Das war das Mindeste, was ich tun konnte, Troy. Heather hätte dasselbe für mich getan.«
Er nickte. »Ja, das hätte sie bestimmt. Sie hat dich wie eine Schwester geliebt.« Er lachte leise, was zu hören ihr wehtat. »Sie hätte mich jederzeit für dich aufgegeben.«
Tränen traten Emily in die Augen, und da konnte sie ihre Gefühle einfach nicht mehr zurückhalten. »Nein, das hätte sie nicht, Dummchen. Sie hat dich immer geliebt, selbst wenn du sie genervt hast. Aber fünfzehnjährige Jungs sind eben so.«
Er lächelte, seine Augen wirkten freundlich. »Der Kerl darf auf keinen Fall damit durchkommen, Emily,
aber ich habe den Eindruck, dass er ungeschoren davonkommt.«
Emily ließ den
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