Wie ein Flügelschlag
schon?«
»Ich habe es gelernt, als ich fünf war.« Ich hatte keine Ahnung,
worauf er hinauswollte. Mein Lebenslauf stand komplett
in meiner Akte, da war ich mir sicher. Zumindest der sportliche
Teil, aber vermutlich noch viel mehr.
Bernges reichte mir den Teller mit den Plätzchen. »Bitte, bedien
dich. Weihnachten liegt zwar schon ein paar Tage zurück,
aber ich finde, sie schmecken noch ganz gut.«
Ich griff zu. Und suchte nach einem anderen Thema.
»Die Musik vorhin …«
»Oh, hast du sie gehört? Hat sie dir gefallen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Das war Klassik,
oder? Da kenne ich mich überhaupt nicht aus.«
Bernges nickte. »Eine italienische Oper. Un ballo in maschera .
Ein Maskenball. Von Giuseppe Verdi.«
Als ich Bernges verständnislos anstarrte, fuhr er fort: »Ein
italienischer Komponist. Ich mag diese Musik. Und die Dramatik
hinter der Geschichte. Ein Mann wird von seinem besten
Freund ermordet.« Bernges griff nach einem Plätzchen und
tunkte es in seinen Tee. »Wenn du Lust hast, erzähle ich dir
gerne mehr über Opern. Vielleicht willst du dir mal eine CD
ausleihen?«
Ich schüttelte schnell den Kopf. »Danke. Nein. Ich glaube,
das ist nichts für mich. Ich habe aber auch gar keinen CD-Spieler.
Nur das hier.« Ich zog meinen MP3-Player aus der Hosentasche.
Zum Glück lächelte Bernges. »Schon okay. Ich vergesse
manchmal, wie hoffnungslos altmodisch ich mit meinem Musikgeschmack
bin.«
Eine Zeit lang schwiegen wir beide, aber dann ergriff er wieder
das Wort: »Was ist da passiert zwischen dir und Melanie?
Ich dachte, ihr seid so etwas wie Freundinnen?«
Mir fiel auf, dass er fast die gleichen Worte wählte wie Tom.
Nur dass ich diesmal nicht so einfach um eine Antwort herumkommen
würde. Ich erzählte ihm von dem Abendessen bei
Melanie zu Hause, von dem Interesse ihres Vaters an meinen
Schwimmleistungen und wie Melanie sich seit diesem Abend
verändert hatte.
Bernges rührte nachdenklich in seinem Tee. »Ich verstehe
nicht viel vom Schwimmen, überhaupt gehört Sport eher nicht
zu meinem Leben.« Er wies auf seine Beine. »Aber vielleicht
meint es Melanies Vater nur gut und übertreibt es dabei einfach
ein bisschen.«
»Ein bisschen?« Irritiert schaute ich ihn an. »Melanie trainiert
seit ein paar Tagen wie verrückt. Und die Theater-AG hat
er ihr scheinbar ganz verboten!«
Bernges stellte seine Tasse ab. »Ja, ich finde auch, dass er zu
weit geht. Aber letztendlich habe ich kein Recht, mich da einzumischen.
Du als Freundin hast vielleicht eher eine Chance, mit
ihr zu sprechen.«
»Ich komme ja überhaupt nicht mehr an sie heran. Die anderen
schotten sie vollkommen ab. Der Einzige, der noch ein
Wort mit mir redet, ist Tom.« Im selben Moment, in dem ich
es ausgesprochen hatte, ärgerte ich mich, das gesagt zu haben.
Es stimmte, ich war gerade ziemlich verzweifelt, aber ich wollte
allein damit klarkommen. Ich brauchte keine Hilfe. Von Tom
nicht. Und erst recht nicht von einem Lehrer.
Bernges tat so, als ob er meinen inneren Aufruhr gar nicht bemerkt
hätte. Er schenkte sich Tee nach und rührte einen Löffel
Zucker hinein.
»Vielleicht braucht sie einfach ein bisschen Zeit«, meinte er
plötzlich.
Ich verstand nicht. Zeit? Wofür sollte Melanie Zeit brauchen?
»Um herauszufinden, was sie wirklich will«, sagte Bernges
und beugte sich wieder zu mir vor. »Ich glaube, du bist viel weiter
als sie. Du weißt, was du willst, und du kämpfst dafür. Melanie
war es bisher gewohnt, das zu machen, was ihr Vater von ihr
verlangt hat. Jetzt ist sie vielleicht zum ersten Mal in der Situation,
dass sich seine Wünsche nicht mit ihren decken. Da ist es
nicht einfach für sie, sich durchzusetzen.«
Wusste ich wirklich, was ich wollte? Ich war mir da längst nicht
so sicher wie Bernges. Ich dachte an meine Mutter. An ihren
Job im Baumarkt, an unser Leben in der Stadtrandsiedlung.
Ich sah sie vor mir, wie sie einsam vor dem Fernseher lag und
eine Zigarette nach der anderen rauchte. Ich wusste, dass ich das
nicht wollte. Aber was stellte ich mir stattdessen vor? Und wie
konnte ich es erreichen? Das Einzige, was ich wirklich konnte,
war schwimmen. Keine Ahnung, ob das ausreichte. Aber fest
stand, dass ich außer Atmen und Schwimmen nicht viele andere
Fähigkeiten hatte. Wie also konnte Bernges annehmen, dass ich
wusste, was ich wollte?
Bernges griff an die Räder seines Rollstuhls und fuhr ein
Stück zurück. Dann schaute er mich wieder an. »Deine Mutter,
war sie vor
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