Wie ein Flügelschlag
Weihnachten hier?«
»Am Tag der offenen Tür? Nein. Sie hatte keine Zeit.« Das
stimmte so nicht, aber ich wollte nicht, dass er wusste, wie sehr
sie die Schule hasste.
»Verstehe.« Tatsächlich nickte er verständnisvoll. »Sie ist allein
mit dir, oder? Was ist mit deinem Vater?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Es gibt keinen Vater. Das
heißt«, korrigierte ich mich, »ich habe keine Ahnung, wer er
ist, ich habe ihn nie kennengelernt.«
Bernges legte mir die Hand auf den Arm.
»Wenn du Probleme hast, Jana, oder einfach nur Fragen, egal
welcher Art, dann kannst du immer damit zu mir kommen. Ich
möchte, dass du das weißt.«
Ich nickte. Sagen konnte ich nichts. Ich war zu beschäftigt
damit, den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken.
Es war keine große Sache. Nur ein Freundschaftsturnier mit
einem Schwimmverein aus der Nachbarstadt. Nichts, wofür
man sich verrückt machen musste. Drexler hatte es deshalb auch
erst am Morgen angekündigt, es gab im Gegensatz zu sonst vor
wichtigen Wettkämpfen kein Extra-Training und keine Wettkampfvorbereitung.
Das Freundschaftsturnier diente lediglich
der Auflockerung des Trainingsalltags vor den Halbjahreszeugnissen.
So hatte es Drexler erklärt und um Punkt vierzehn Uhr
saßen wir alle mit unseren Sporttaschen im Bus und warteten
auf die Fahrt in die Nachbarstadt.
»Wo ist Mel? Kommt sie nicht mit?«, flüsterte ich Tom zu,
der in der Reihe vor mir neben Jonas saß.
»Keine Ahnung. Heute Morgen hatte ich den Eindruck, als
ob sie ebenfalls dabei wäre.«
Fragend sah Tom Jonas an.
»Bin ich ihr Aufpasser oder was?«, fauchte Jonas nach hinten.
Ich drehte mich weg und schaute aus dem Fenster.
Gleich bei unserer Ankunft fiel mir der Geländewagen auf
dem Parkplatz auf. Weiß und riesig. Ich sah wieder die geschwungene
Treppe vor mir, an deren Fuß ich dieses Auto zum
ersten Mal erblickt hatte. Melanie war also schon hier. Und ihr
Vater höchstpersönlich hatte sie hergefahren.
Mein Sohn und ich begleiten Melanie oft zu ihren Wettkämpfen ,
hallte es in meiner Erinnerung wider.
Als wir in unseren Badesachen aus der Kabine kamen, war
Melanie schon im Wasser und schwamm sich ein. Mein Blick
ging zur Tribüne, auf der eine Handvoll Jugendlicher saß und
mit ihren Handys spielte. Melanies Vater sah ich nicht. Auch
Mika war nicht da.
Am Beckenrand stand Drexler im Gespräch mit zwei anderen
Männern, vermutlich den Trainern des gegnerischen Vereins.
Und dann entdeckte ich ihn. Doktor Wieland trug heute einen
schwarzen Trainingsanzug, deshalb hatte ich ihn nicht sofort erkannt.
Er ging direkt auf Drexler zu und begrüßte ihn mit einem
kräftigen Händedruck. Die Männer steckten die Köpfe zusammen
und unterhielten sich. Ich starrte zu ihnen hinüber. Was
hatten die beiden zu bereden?
Mein Puls beschleunigte sich, ich fühlte wieder die Wut in mir
aufsteigen, mit der ich Melanies Zuhause vor ein paar Tagen verlassen
hatte. Ich suchte das Becken nach Mel ab, aber sie war nicht
mehr im Wasser, sondern stand an den Tribünen und unterhielt
sich mit jemandem, der sich von der zweiten Bankreihe zu ihr
hinunterbeugte. Für den Bruchteil einer Sekunde setzte mein
Herzschlag aus. Mika war doch hier. Und wer war das da neben
ihm? Ich brauchte einen Moment, bis ich Vanessa erkannte. Sie
saß im Trainingsanzug bei Mika. Jetzt flüsterte sie ihm etwas ins
Ohr. Mika lachte und schüttelte den Kopf. Was machte Vanessa
bei den Zuschauern? Schwamm sie etwa nicht mit?
Ein Pfiff riss mich aus meinen Überlegungen. »Schwarzer,
wie wäre es mit Einschwimmen? Oder braucht die Dame eine
Extra-Einladung?«
Mel blickte hoch und auch Mika wandte mir den Kopf zu. Vanessa
legte ihm eine Hand auf den Arm und er drehte sich wieder
zu ihr um. Schnell sprang ich ins Wasser. Aus dem Augenwinkel
nahm ich noch wahr, wie Drexler sich wieder Wieland
zuwandte. Aber Wieland schien ihm gar nicht zuzuhören. Ich
schwamm ein paar Züge und versuchte durchzuatmen. Es war
ein Freundschaftsturnier. Kein Grund, sich verrückt zu machen.
Sollte Wieland doch denken, was er wollte, ich würde einfach
mein Ding durchziehen und ausblenden, dass er überhaupt da
war. Hoffentlich gelang mir das auch bei Mika. Verwirrt stellte
ich fest, dass es mich nervös machte, ihn unter den Zuschauern
zu wissen.
Ich schaute noch mal schnell zu den Tribünen, aber Vanessa
war verschwunden. Mika sah zu mir herüber, und als sich unsere
Blicke trafen, winkte er mir zu. Ich tauchte unter, um mein glühendes
Gesicht im Wasser
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