Wie ein Ruf in der Stille: Roman (German Edition)
sich mit Kirschen. Jennifer lernte das Zeichen, Schreibung und Aussprache. Sie probierte Kirschgötterspeise, Kirschsaft, Kirschbonbons. Und lernte, einen bestimmten Geschmack und Geruch mit dem Begriff zu assoziieren.
Als Lauri und Jennifer gegen Mittag das Klassenzimmer verließen, hatte Drake bereits ein paar Sandwiches und eine Suppe für sie vorbereitet. Mitten auf dem Tisch, zwischen Tischsets und gefalteten Servietten, thronte ein flauschiger pinkfarbener Plüschhase. Das Kind jauchzte vor Begeisterung, schoss durch die Küche und riss das Spielzeug an sich.
»Da hast du wohl einen Volltreffer gelandet«, schmunzelte Lauri.
»Ich dachte mir, dass er ihr gefallen würde.« Drake lächelte seiner Tochter zu.
Lauri hockte sich neben die Kleine. »Wie heißt denn dein Hase?«
Jennifer schaute sie verständnislos an. Sie streichelte die weichen, langen Löffelohren und murmelte vor sich hin. Lauri artikulierte und buchstabierte: Der Hase heißt Bunny .
Jennifer nickte und lachte, formte die Zeichenkombination mit ihren kleinen Fingern und strich dem Hasen über den Kopf.
»Vermutlich hat sie ihn eben getauft«, meinte Drake.
Gegenüber seiner Tochter verhielt er sich weiterhin liebevoll und zugänglich, bei Lauri dagegen war er die Distanziertheit in Person. Während des Essens brütete er dumpf vor sich hin, sagte nur das Nötigste.
Was hatte sie anderes erwartet? Dass sie ihn versehentlich an Susan erinnert hatte, machte ihn anscheinend depressiv. Das kannte sie von Paul, der sich öfter in sein Schneckenhaus zurückgezogen oder tagelang gedankenvoll wie ein tragischer Held durch ihr gemeinsames Apartment gewandelt war. Pauls Launenhaftigkeit hatte sie dazu genötigt, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, vor Angst, sein ohnehin schwach entwickeltes Selbstwertgefühl noch weiter anzukratzen.
Aber das passierte ihr nicht noch einmal! Sie schenkte Jennifer ihre ungeteilte Aufmerksamkeit und ließ Drake links liegen. Am Nachmittag, als Betty mit ihren Kindern
zum Unterricht eintrudelte, gesellte er sich zu ihnen an den Küchentisch.
Wie weggewischt war die tragische Figur, die ihnen das Mittagessen serviert hatte. Er alberte und scherzte mit ihnen, lachte gewinnend, in seinen Augen blitzte der Schalk. Wie war es bloß möglich, dass sich jemand von jetzt auf gleich in einen völlig anderen Menschen verwandelte?, zermarterte Lauri sich das Hirn.
Unversehens hatte sie die Erleuchtung: Es war sein Beruf, dafür wurde er bezahlt. Er konnte seine Stimmungslage wechseln wie andere Menschen ihre Kleider. Paul war ein ähnliches Phänomen gewesen – bei Terminen mit Agenten oder Plattenproduzenten stocknüchtern und sprühend vor Kreativität, um schon auf dem Heimweg wieder in eine stumpfe Lethargie zu verfallen.
Diese plötzlichen Stimmungsumschwünge bei Drake wurden ihr zunehmend suspekt; da musste man sich doch fragen, wie er wirklich war? Inwieweit konnte man sich auf das verlassen, was er sagte? Was er machte? Waren seine Küsse lediglich gespielt gewesen wie die Liebesszenen in seiner Telenovela? Sie hatte beobachtet, wie er die Schauspielerin im Studio geküsst hatte, und das hatte ungemein überzeugend gewirkt.
Jedenfalls durfte sie nicht noch einmal schwach werden, entschied sie. Ihre Zärtlichkeiten bedeuteten ihm nichts, anders als ihr. Ihr waren sie sogar immens wichtig, stellte sie schockiert fest.
Diese Gedanken gingen ihr im Kopf herum, als sie am Nachmittag ihre kleine Gruppe unterrichtete. Sie bemerkte zunächst gar nicht, dass sie Drake sekundenlang anstarrte
und er es dummerweise registrierte. Aus ihren Träumereien auftauchend, stellte sie fest, dass seine Augen an ihr klebten. Sie versuchte wegzusehen, doch sein Blick zog ihren magnetisch an. Ihre goldgesprenkelte Iris fokussierte sich auf ihn, und für einen flüchtigen Moment realisierte sie, dass er die Sehnsucht darin las.
Er gestikulierte: Ich hab die Sommersprossen nicht vergessen. Prompt senkten sich seine Augen auf ihre Brüste, und Lauri musste sich zügeln, sie mit ihren Händen nicht unwillkürlich zu bedecken.
Sie errötete und blickte hastig zu Betty und den Kindern, in der Hoffnung, dass sie nichts davon mitbekommen hätten. Gottlob diskutierten sie gerade über den Einkauf neuer Schuhe.
Sie wandte sich wieder Drake zu. Seine Lippen unter dem schmalen Bart formten sich zu einem frivolen Grinsen. Hast du noch welche, die ich bislang noch nicht entdeckt habe, bedeutete er mit seinen sehnigen Fingern.
Nein , antwortete
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