Wie ein Stein im Geroell
in abschätzigem Ton: Das wird wieder ein Mädchen.
Im Frühjahr 1923 wurde es geboren. Am letzten Tag im März, und noch immer gab es Morgenfrost. Wir nannten sie Angeleta.
W enn man von der Eifersucht der Großen auf die Kleine absah, dann waren die folgenden sechs Jahre gute Jahre für uns. Die Sorgen, die ich mir manchmal um Jaume machte, quälten mich immer seltener. Ich kann nicht sagen, ob unsere Töchter uns einander noch näher brachten oder ob sie eher zwischen uns standen, ich weiß nur, daß ich oft das Gefühl hatte, wir würden uns über die beiden lieben. Wenn ich auf den Weiden von Solau das Vieh hütete, eine Masche rechts, eine Masche links, dann mußte ich immer an diese unbändige Freude denken, die mich einfach mit sich gerissen hatte, damals, als ich mich in Jaume verliebte, und sie kam mir vor wie ein verlorenes Paradies. So wie der Pfarrer den Himmel predigte, mochte ich ihn mir nicht vorstellen, für mich glich er vielmehr jener seltsamen Macht, die meine ganze Welt aus den Angeln gehoben hatte.
Oft riß mich Elvira aus meinen Gedanken. Sie jagte mir einen gehörigen Schreck ein und konnte sich dann vor lauter Lachen nicht mehr einkriegen. Sie wuchs heran, war klein und zart, aber lebhaft, und ihre Energie erinnerte an die der Tante. Sie kam, um mich abzulösen, damit ich das Abendessen vorbereiten konnte. Die Lehrerin meinte, sie habe eine rasche Auffassungsgabe, und die Vorstellung, daß sie sich im Leben einmal besser zurechtfinden würde als ich, machte mich glücklich.
An jenem Tag kam Elvira mit einer Neuigkeit. Die Vettern hatten geschrieben, und die Tante dachte offenbar daran, zu ihnen nach Barcelona zu fahren.
Mir blieb fast das Herz stehen. Da mußte irgendein Unglück passiert sein. Eine so weite Reise zu machen, schien mir nichts Gutes zu bedeuten. Ich ließ alles stehen und liegen, so als hätte ich gerade erfahren, daß bei uns in der Scheune ein Feuer ausgebrochen sei. Elvira hatte ich erst gar nicht ausreden lassen, denn ich wollte so schnell wie möglich wissen, was da los war. Unterwegs traf ich auf Delina, die gerade die Kühe heimtrieb. Das war mein Glück, denn sie brachte mich ein wenig auf andere Gedanken. Sie war vergnügt wie immer und erzählte mir, daß ihr älterer Bruder ja bald zum Priester geweiht würde, und daß sie ganz aufgeregt sei, wenn sie nur daran dachte. Er hatte gemeint, wenn sie nicht vorhätte zu heiraten, dann könnte seine Schwester, wenn er erst einmal seine erste Messe gelesen hätte, also dann könnte Delina doch seine Haushälterin werden und sich um alles kümmern. Um die Meßgewänder und um das Pfarrhaus, das er dann zugewiesen bekäme, und dann wäre sie die angesehenste Frau im ganzen Ort. Delina wußte wohl, daß es bis dahin noch etwas dauern würde, aber jetzt habe sie ein Ziel in ihrem Leben, und das sei schließlich viele Jahre nicht so gewesen. Ich traute mich gerade noch einzuwenden, daß irgend jemand sie bis dahin vielleicht zur Frau nehmen möchte, doch sie sagte nein, auf gar keinen Fall. Sie könne es sich nicht vorstellen, irgendeinem Mann das Dienstmädchen zu machen, allein der Gedanke daran bringe sie schon auf die Palme.
Während ich noch überlegte, was dieses «auf die Palme bringen» wohl bedeuten könnte, waren schon die ersten Häuser des Dorfes in Sicht, und wie ein Windstoß flogen all die dunklen Gedanken wieder auf mich zu. Ich nahm gleich zwei Stufen auf einmal, als ich die Treppe hoch in die Küche lief. Die Tante war seelenruhig beim Kartoffelschälen, und der Onkel saß mit seiner Pfeife im Mund am Feuer. Ich sah gleich, daß nichts Schlimmes passiert war, und da nahm ich mir vor, nichts von dem zu sagen, was Elvira erzählt hatte. Die Tante könnte es mir übelnehmen; doch sie fing sofort an zu reden, als sie mich sah. Kind, in Barcelona findet die Weltausstellungstatt, und mein Vetter hat mich eingeladen, ich soll unbedingt kommen. Ich finde, wenn ich jetzt nicht nach Barcelona fahre, dann wird vielleicht nichts mehr daraus, bevor ich sterbe. Wenn du dich allein um das Haus und die Kinder kümmern kannst, mach’ ich mich in zwei Wochen auf den Weg. Dann sagte sie noch, daß auf so einer Weltausstellung viele schöne Dinge aus aller Herren Länder gezeigt würden. Woraufhin der Onkel meinte: Und dafür brauchen sie natürlich deinen Segen. Er sagte das nicht etwa verärgert, eher so, als sei er neidisch auf seine Frau, weil sie in der Lage war, sich für etwas zu interessieren, das so weit weg war
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