Wie ein Stein im Geroell
ließen, was wir hier in Pallarès kannten. Außer vielleicht, wenn überhaupt, mit den Bergen und Flüssen.
I m Herbst wurde der Onkel krank. Es schien von der ganzen Plackerei im Sommer zu kommen, aber langsam wurde es Winter, und es ging ihm immer noch nicht besser. Der Arzt aus Montsent hatte gemeint, sollte der Onkel um Weihnachten herum immer noch dieses Brennen verspüren, müßten wir ihm Bescheid geben, und dann würde er ihm einen Sirup verschreiben. Der Onkel saß zusammengekauert in einer Ecke und schien nichts mehr mitzubekommen, er redete kaum noch, ja er beklagte sich noch nicht einmal. Ab und zu erzählte er den Kleinen Geschichten, aber nur, wenn wir Erwachsenen nicht in der Nähe waren. Ich habe nie herausbekommen, ob er gern mit ihnen zusammen war, oder ob es ihm darum ging, uns zu helfen. Wenn er schon nicht mehr zur Arbeit taugte, wollte er sich wenigstens um die Kinder kümmern, damit sie uns nicht störten.
Allerseelen hatte die Tante damit begonnen, ihm den Leib mit einer Salbe einzureiben, die aus Schlangenfett bestand und einem Kräutergemisch. Sie hat mir nie sagen wollen, wie sie an das Rezept gekommen war. Der Onkel ließ alles mit sich geschehen, aber es ging ihm nicht besser. Er aß kaum noch, und nachts konnte er nicht schlafen.
Zum Arzt nach Montsent mußten wir ihn nicht mehr bringen. Am 8. Dezember, am Tag der Unbefleckten Empfängnis, ließ uns der Onkel allein auf dem Schiff zurück, dessen Kurs er bislang mitbestimmt hatte.
Ich weiß nicht, ob wir immer erst einen Menschen verlieren müssen, um uns darüber klar zu werden, daß wir ihn geliebt haben, aber mir ging es so. Zu seinen Lebzeiten hatteich keine Zeit, darüber nachzudenken, ob ich Liebe für den Onkel empfand oder Dankbarkeit und Respekt. Doch als er dann tot war, durchdrang mich eine große Zuneigung für diesen Mann, der mir viele Jahre den Vater ersetzt hatte. Vielleicht ohne Begeisterung zu zeigen, was seinem Charakter auch nicht entsprochen hätte, wohl aber mit gutem Willen. Ich nahm mir fest vor, alles für das Glück der Meinen zu tun. Sie sollten wissen, wie lieb ich sie hatte und wie sehr mir ihr Wohlergehen am Herzen lag, besonders das der Tante, die Ärmste, denn trotz ihres starken und energischen Charakters war sie ziemlich bedrückt.
Man könnte meinen, in manchen Familien zieht ein Trauerfall den nächsten nach sich. Nur ein paar Monate später, im März 1931, erreichte uns die Nachricht vom Tod meiner Mutter. Jaume wollte mich nach Ermita begleiten, aber die Tante ließ es nicht zu. Es war ja auch ihre Schwester. Also machten sie und ich uns sogleich auf den Weg dorthin.
Den Vater und die Geschwister fand ich in Tränen aufgelöst vor. Und ich, ich konnte es einfach nicht fassen, daß ich mich nicht von dem Menschen hatte verabschieden können, der mich zur Welt gebracht hatte. Da war mir, als würde ich auf einmal meinen Mann verstehen, der immer davon sprach, wie arm wir dran waren …, und wie schwierig es sei, von einem Ort zum anderen zu gelangen, und kamen wir endlich an, war es oftmals schon zu spät.
Nichts und niemand konnte mich trösten. Der Vater war sehr alt geworden seit der Taufe von Angeleta, und meine Geschwister erschienen mir wie entfernte Verwandte. Bei ihnen war ich nicht mehr daheim, ich gehörte jetzt woandershin. Als ich das spürte, sah ich plötzlich mein ganzes Leben vor mir, von dem Augenblick an, als ich mein Elternhaus verlassen hatte. Mir war, als wären die Jahre nur so verflogen und als hätte meine Mutter vielleicht nie den Schmerz verwunden, eine ihrer Töchter fortzugeben. Doch all das war Vergangenheit, und das Leben ging weiter. Als wir Ermita wieder verließen, waren meine Augen vom Weinen geschwollen und mein Kopf so schwer, und ich dachte bei mir, wer weiß, ob ich je wieder hierher zurückkommen werde. Die Wurzel, durch die ich am tiefsten mit diesem Ort verwachsen war, hatte ich für immer verloren.
Zuhause in Pallarés war es wegen all der Trauer stiller geworden. Der Krach und der Lärm, den meine Töchter machten, kam mir nicht mehr so laut vor, vielleicht weil sie älter wurden, vielleicht aber auch, weil ich in meine Gedanken versunken war und es gar nicht hörte.
Doch sollte bald eine seltsame Freude unser Haus erfüllen. Es war Jaume, der uns die Nachricht überbrachte. König Alfons XIII. hatte das Land verlassen, und gerade eben war die Republik ausgerufen worden. Ich verstand zwar nicht ganz, weshalb das ein besonders großes Glück sein
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