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Wie ich mir das Glück vorstelle

Wie ich mir das Glück vorstelle

Titel: Wie ich mir das Glück vorstelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kordić
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ist da drin?
    Ich mache die Tüte auf und lege alles raus:
    x   ein großes Stück Fleisch, vielleicht von einer Kuh
    x   sieben Kartoffeln
    x   zwei Tomaten
    x   drei Eier
    x   eine Feige
    x   das Taschenmesser
    x   ein Glas mit Kräutern
    Und dann ist da ganz unten in der Tüte noch ein Stück Papier. Ich nehme das raus. Es ist gefaltet und zugeklebt.
    Der einbeinige Dschib sagt: Was ist das?
    Ich sage: Da steht drauf: Für Viktor.
    Der einbeinige Dschib sagt: Mach es doch auf!
    Ich klemme mir den Zettel in den Bund von der Hose.
    Ich sage: Lass uns erst ein Feuer machen, bevor es wieder dunkel ist.
    Ich helfe dem einbeinigen Dschib auf und stütze ihn. Wir gehen hinters Haus. Ich zeige dem einbeinigen Dschib den Reifen und er setzt sich da drauf. Tango legt sich in die Mitte von dem Reifen. Die beiden gucken mir zu, wie ich Feuer mache. Ich lege das Fleisch in einen Topf und kippe was von dem Wasser rein. In einen zweiten Topf schütte ich die Kräuter für den einbeinigen Dschib und kippe auch da Wasser dazu. Beide Töpfe hänge ich übers Feuer. Als ich merke, dass der einbeinige Dschib mir das Papier aus der Hose zieht. Der reißt das auf und faltet es auseinander.
    Der einbeinige Dschib sagt: Lieber Viktor ...
    Ich sage: Warte!
    Ich setze mich zu Tango und dem einbeinigen Dschib in den Reifen. Die Zunge hängt Tango seitlich aus dem Maul. Das eine Auge eitert noch immer. Der einbeinige Dschib hält den Brief in der Hand. Ich gucke ins Feuer.
    Lieber Viktor,
    ich kann nicht lesen und ich kann nicht schreiben. Ich habe das nie gelernt. Und trotzdem ist dieser Brief von mir. Für dich. Ich diktiere ihn. So wie du das früher auch gemacht hast. Dass du diesen Brief jetzt in deinen Händen hältst, das haben wir einer Frau zu verdanken, über die manche sagen, dass sie eine Hexe ist. Andere sagen, sie ist ein Wunder. Mir ist es ganz egal. Ich habe allerlei Beschwerden. Durchfall, Kopfschmerzen, Grippe, Nierensteine. Für alles hat diese Frau die richtige Medizin. Die Natur. Kräuter. Wasser. In der richtigen Kombination und im richtigen Verhältnis zusammengebraut, findet sie für jedes Gift ein Gegengift. Diese Frau weiß mehr als wir. Diese Frau sieht mehr als wir. Und wie du weißt, war sie uns auch schon bei deiner Geburt eine Hilfe. Ich glaube an Gott, den Allmächtigen. Trotzdem weiß ich, dass mir ohne diese Frau das Leben schon längst viel schwerer fallen würde. Aber ich weiß auch, solltest du noch am Leben sein und solltest du eines Tages irgendwo wieder in der Stadt auftauchen, so wird hier von uns wohl keiner auf dich warten. Aber diese Frau. Ich bin mir sicher, wenn du am Leben bist, wird sich das bis zu ihr rumsprechen. So wie sich alles schnell rumspricht. Ich allerdings muss jetzt davon ausgehen, dass wir uns nicht mehr sehen. Mein Zustand ist schlecht. Und jeden Tag wird er schlechter. Zwar steht unser Teil der Stadt nicht so sehr unter Beschuss wie der Osten. Aber ganz unabhängig davon bin ich eben eine alte Frau. Ich komme hier nicht mehr raus.
    Die Zeit, die sich zum Ende meines Lebens noch einmal so sehr verändert hat, ist schlimm, Viktor. Für uns alle. Was aber noch viel schlimmer ist, ist, dass du nie eine andere Zeit erlebt hast. Du weißt nicht, wie das Leben hier einst war. Wie es sein kann. Ein fruchtbares Land voller Berge, Schluchten, Seen und Feigenbäume. Wie im Paradies.
    Es gibt dieses Leben auch heute noch. Das verspreche ich dir. Nicht in dieser Stadt und auch nicht in den Dörfern. In den Bergen. Ganz weit oben. Dort, wo schon lange kaum ein Mensch mehr ist. Dort, wo dich keiner fragt, wer du bist. Dort, wo dir dein eigenes Stück Land die Aufgaben stellt, die du bewältigen musst. Dort musst du hin. Dort ist dein Platz. Dort bin auch ich bei dir. Guck mal in den Stall.
    Deine Oma
DER LETZTE TAG
    Im Fährhafen steht ein Mann vor einem Grill. Mit einem Pinienast streicht er Öl und eine salzige Knoblauchbrühe über die Fische, die auf dem Rost liegen. Obwohl der Junge noch nie in seinem Leben einen Fisch gegessen hat, kann er sich nichts Schöneres vorstellen, als eines dieser goldbraunen Tiere in die Hand zu nehmen und hineinzubeißen. Es geht ihm dabei um einen ganz bestimmten Fisch, den er schon einige Zeit anschaut und den bislang zum Glück keiner essen will.
    Der Junge sagt zu dem Mann: »Kann auch ich einen Fisch haben?«
    Der Mann greift genau den Fisch mit seiner Zange heraus, den der Junge sich ausgeguckt hat, legt ihn in eine kleine Plastikschale und

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