Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
wandern wir dahin, erzählen einander Geschichten aus unserem Leben, singen und schweigen. Die Stoppelfelder duften und knistern beim Drübergehen, weit und breit gibt es keinen Ort, kein Haus, keine Straße. Nur steinige Pisten und Feldwege. Wir gehen und gehen, den ganzen Nachmittag. Der Wind wird stärker, weht immer von vorn, kostet Kraft, doch er klärt meinen Kopf. Was war das heute Morgen? Ich habe nicht getan, was ich wollte, und mich stattdessen über Maja geärgert. Weil sie für sich sorgt. Bin ich so? Versage ich mir meine Bedürfnisse und laste es anderen an? — Anscheinend ja. Schrecklich. Kein Trost, dass andere wohl auch so handeln; denn hätte sonst Shantideva schon vor Jahrhunderten gesagt „Wir sind alle Sklaven unserer Taten, warum sollten wir anderen deshalb böse sein“?
Der Weg ist weit, wir werden müde. Manchmal überholen uns Wanderer, doch meist sind wir ganz allein. Stundenlang. Nur als ich über ein Feld abkürzen will und erst nach Durchwaten eines matschigen Grabens wieder auf den Weg zurück kann, feixen vier Männer. Gerade hier ruhen spanische Wanderer auf einer Brücke von ihren 40 Tageskilometern aus. Seltsam, diese Einsamkeit. Matt schleichen wir durch das enger werdende Tal, an dessen Horizont wild aussehende Hügel mit dichtem Eichenwald auftauchen. Es kann nicht mehr weit sein, nur noch durch dieses Flusstal und um die Sandsteinbarriere dahinter.
Aber es ist sogar noch weit, als die Stadt schon vor uns liegt. Wir schleppen uns die letzten schrecklichen Kilometer durch Vororte. Arme Maja, sie ist fix und fertig, kann kaum noch gehen. Ich fühle mich besser, doch ich bin erleichtert, als die Altstadt endlich vor uns auftaucht und wir die schattige Pilgergasse erreichen. Wie zum Hohn kommen uns entspannt aussehende, saubere Pilger entgegengeschlendert, und eine junge Frau lacht uns mitleidig an: „Ihr seid gleich da“. Warum sind bloß die Altstädte so groß und liegen die Herbergen immer außerhalb von ihnen!
Nur noch durch ein Stadttor und über den Fluss, dann sind wir endlich am Ziel. Auf einem Hof voller Menschen und Wäscheleinen, zwischen einer Turnhalle und der Herberge, in der ein flämisches Ehepaar uns freundlich auf Deutsch empfängt. „Das Haus ist voll, nur in der Turnhalle ist noch Platz.“ Roger bringt uns hin. „Ihr habt die Betten Nummer 21 und 22.“ Wieder soll ich oben schlafen, in einem schauderhaften, schmalen Eisenbett, in diesem schauderhaften, heruntergekommenen, vollgestellten Raum mit mindestens 50 Betten. Egal, wir haben keine Wahl, sind eh so müde, dass wir überall schlafen würden. Maja kippt sofort auf ihre Matratze, ich dusche ganz lange und bin danach fit genug, mich um unser Abendbrot zu kümmern. Ich werde kochen, weil wir zu hungrig sind, um zu warten, bis um 20 Uhr die Restaurants öffnen. Läden sind auf der anderen Flussseite genug, und eigentlich ist es ganz nett, mal wieder für ein richtig deftiges Nudelgericht einzukaufen. Und für meine Vorspeise: Schon während des Kochens futtere ich kalten Spargel direkt aus dem Glas, mit Unmengen Mayonnaise, die mir einer der anderen Küchenbenutzer schenkt.
Pappsatt und zufrieden hocke ich mich in die Abendsonne. Während Maja abwäscht, beobachte ich das Treiben auf dem Hof, lasse mir von einem Japaner die Geschichte seiner mehrmonatigen Europawanderung erzählen und genieße das Heute-nichts-mehr-tun-Müssen. Nur noch zum Pilgergottesdienst, der gleich beginnt. Ich möchte endlich mal wieder in eine Messe.
Die Kirche ist voller einheimischer Frauen, die im Wechsel mit einer Vorleserin ein langes Gebet an Maria sprechen. Schön und fremd für mich als Protestantin, in deren Glaubenskosmos die Mutter Jesu bisher nicht vorgekommen ist. Doch diese hingebungsvollen Gesichter machen mich nachdenklich. Vielleicht ist die Jungfrau Maria eine Verkörperung des weiblichen Elements Gottes und wird stellvertretend für alle unbedeutenden, unterdrückten Frauen erhöht. Zu ihr beten ist wie zu einer Mutter sprechen. Kann ich durch sie Zugang zum Göttlichen finden?
Die fromme Atmosphäre im prachtvollen, barocken Raum nimmt mich auf, tut meiner Seele gut. Ich bin einfach nur da und trete am Ende der Messe mit vielen anderen Pilgern nach vorn in den Altarraum, lasse mich für den weiteren Weg segnen und erhalte vom Priester ein Geschenk: Ein Kärtchen mit dem Bild der Jakobusstatue dieser Kirche und einem Pilgergebet auf der Rückseite. In meiner Sprache. Ich stecke es in meine Geldbörse, es
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