Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
alles nur kurz. Bereits auf dem Treppenabsatz zum Riesenschlafsaal im ersten Stock stehen Betten, und oben mindestens achtzig — und uns werden die beiden ersten direkt an der Treppe zugewiesen!
Das ist zu viel. Ich will nicht. Ich möchte gar nicht hier sein und schon gar nicht an einem so zentralen Platz schlafen. Schnaubend rausche ich nach draußen, rauche, werde ruhiger und überlege. Jetzt werde ich für mich sorgen. Entschlossen wie selten setze ich dem Bettenverteiler solange zu, bis er mir den Belegungsplan hinhält: „Such dir in Gottes Namen aus, wo du schlafen willst, aber nur ausnahmsweise“.
Schon geht’s mir besser.
Noch besser wird es, als Maja und ich uns für den Nachmittag trennen, und ich im super Freibad mit 50 Meter Bahnen und 20 Grad kühlem Wasser ausgiebig schwimme.
Und es wird noch viel besser, als ich danach das wunderbare Kloster besichtige. Mit einem deutschsprachigen, bebilderten Führer vor der Nase wandere ich durch einen plateresken Kreuzgang in die angrenzende Kirche, m der eine Marienstatue, eine Öllampe und ein Strauß weißer Lilien im Zentrum der Altarwand Beweis für das Wunder sein sollen, welches der Kloster- und Kirchenentstehung zu Grunde lag.
1052 war der navarrische König Garcia III. auf einer Jagd seinem Falken in eine Höhle gefolgt und wurde von einer Marienvision zur Gründung eines Klosters an dieser Stelle aufgefordert. Nachdem die Erscheinung verschwunden war, fand er diese drei Dinge dort. Er baute Kirche und Kloster, und kam dann jeden Samstag mit seinen Rittern, um vor der Statue zu beten.
Wunder oder Legende? Auf jeden Fall Politik. Das Mittelalter war wundergläubig und von den Pilgern blieben viele. Kein Herrscher hatte ausreichend Untertanen.
Die Grotte in der Felswand ist auch heute noch zugänglich, vorbei an Reihen kunstvoll behauener Steinsarkophage, in denen navarrische Könige nebeneinander ruhen. In dem stillen Raum steht eine jahrhundertealte Replik der Wunderstatue aus buntbemaltem Holz: Maria mit edlem Gesichtsausdruck im gefältelten Gewand, gekrönt wie Jesus auf ihrem rechten Knie: Ein ernst blickendes, liebliches Kind.
Auf meinem Weg hinaus bedeutet mir eine junge Spanierin ihr durch eine kleine Eisentür und eine enge Wendeltreppe zu folgen, hinauf in den Chor über dem Kirchenschiff, dem ehemaligen Sing- und Betraum der Mönche. Aber nicht die eindrucksvollen Gemälde mit Szenen aus dem mittelalterlichen Adelsleben sind das Sehenswerte, sondern die beiden Reihen dunklen Chorgestühls, über und über mit unvergleichlich originellen Schnitzereien bedeckt. Fratzen, Fabeltiere, Blumen, Teile von Menschen, Tieren und Pflanzen, Drachen, Ungeheuer, Teufel und nicht zu deutendes. Phantastisch im Sinne des Wortes. Ich kann mich kaum satt sehen an der Menge der 700 Jahre alten Verzierungen, finde immer wieder etwas Neues, Groteskes, Witziges, freue mich wie ein Kind und bin glücklich.
Auch Maja haben die Stunden ohne mich aufgeheitert, wir haben wieder Lust aufeinander, finden ein gutes Restaurant und sitzen bald an einem weiß gedeckten Tisch. Unterhalten uns nett und essen leckere Bohnensuppe, gegrillten Fisch in Knoblauch-Petersilien-Öl und gedünstete Birnen in rotem Weinsud. Unvergleichlich köstlich.
Wie schön dieser Tag doch noch geworden war — gegen meine Erwartungen! Ich musste auf dem Rückweg durch die dunkle Stadt Max anrufen, um es ihm zu erzählen. Und ihm sagen, wie weit entfernt ich mich vom normalen Leben fühle.
Vertrauen?
Nájera — Santo Domingo de la Calzada > 22 km
War diese Veränderung zu fassen? Es hatte mir nichts ausgemacht, mit 80 Menschen in einem Raum zu schlafen — von Tag zu Tag wurde ich entspannter und gelassener, nahm die Widrigkeiten zwar noch zur Kenntnis, doch ich freute mich bei jedem Erwachen mehr auf den neuen Tag. Der Sonnenschein hatte mein Gemüt aufgehellt, ich fühlte mich leicht, störte mich nicht an den vollen Waschräumen und der Enge in der Küche, all den Geräuschen und Gerüchen; alles gehörte zu diesem Leben.
Ein letztes Mal schau ich an den grauen Mauern des Klosters empor, bevor wir die schlafende Stadt durchwandern, hinauf in einen Pinienwald auf den roten Bergen. In der harzig duftenden, frischen Morgenluft fliegen Schmetterlinge, der lehmige Weg ist trocken und breit, und mein Unterwegssein so selbstverständlich, als hätte ich nie anders gelebt. Wir zwei sind unbeschwert, singen und albern, erreichen bald freies Land und in ganz kurzer Zeit Azofra, eines der
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