Wie Krähen im Nebel
zugeben. Und jetzt tickt es schon wieder!»
Eine Faust donnerte gegen das Seitenfenster.
«Porco dio!»
, fluchte Guerrini. «Warum begreift niemand, dass es Situationen im Leben gibt, in denen man auf dem Bürgersteig parken muss!» Er beugte sich zu Laura hinüber und schlug von innen an die Scheibe, spürte, als er die Hand sinken ließ, ihren weichen Mantel, gleich darauf, wie ihre Finger seinen Rollkragen herabzogen und ihre Lippen die kleine Vertiefung über seinem Schlüsselbein berührten. Da steckte er beide Hände unter ihren Mantel und hatte das Gefühl, als lockere sich das Würgeeisen um ein paar Zentimeter.
Eine halbe Stunde später saßen sie in genau dem Café an der Piazza della Signoria, in dem sie ihren ersten Cappuccino miteinander getrunken hatten, und erinnerten sich lachend an die Pferdeäpfel, die das Kutschpferd damals vor ihrem Tischchen hatte fallen lassen. Jetzt, im Dezember, war es zu kalt, um draußen zu sitzen, und sie waren froh über die stille Nische, die sie drinnen gefunden hatten, tranken
vin brulé
, die italienische Variante des Glühweins mit dem französischen Namen.
«Heißer Wein macht schnell betrunken!», sagte Laura. «Vielleicht ist es ein Fehler, heißen Wein zu trinken, wenn man schwierige Ermittlungen vor sich hat!»
«Ja!», erwiderte Guerrini ernst. «Ich finde, du hast völlig Recht. Andererseits ist es einfach wunderbar, heißen Wein zu trinken, wenn es draußen kalt und neblig ist. Und im Augenblick ermitteln wir gar nicht, oder?»
«Du machst dich über mich lustig, Commissario!»
«Nur über einen Teil von dir, Laura! Den deutschen Teil!»
«Und woher weißt du, dass es nicht mein italienischer Teil ist, der meint, dass Glühwein nicht gut für den Kopf ist?» Guerrini lachte leise.
«Weil wir gerade unser Wiedersehen feiern und bei dir sehr laut das deutsche Pflichtbewusstsein tickt – ich habe es sogar durchs Telefon ticken gehört, wenn ich dich in München angerufen habe.»
Laura runzelte die Stirn und schnupperte genüsslich an ihrem Wein, der nach Zimt und Nelken duftete.
«Gibt es kein italienisches Pflichtbewusstsein?», fragte sie.
«Doch …», Guerrini dehnte das Wort, tat so, als suche er nach der genauen Definition des Unterschieds. «Es ist nur anders – irgendwie flexibler, mehr auf die jeweilige Situation bezogen. Sozusagen ein Kompromiss zwischen Pflicht und Leben. Also zum Beispiel: Wenn wir beide für eine halbe Nacht ans Meer fahren, statt einen Haufen Verdächtiger zu observieren, dann ist das italienisches Pflichtbewusstsein.»
Laura rückte näher an ihn heran, lehnte ihr rechtes Bein an sein linkes.
«Und was ist deutsches Pflichtbewusstsein?»
«Ganz einfach!», grinste Guerrini. «Dann fährt man eben nicht ans Meer, sondern observiert, bekommt schlechte Laune, und später hat man nichts, an das man sich gerne erinnert.»
«Bene!»
, lächelte Laura. «Dann genießen wir jetzt unseren Glühwein, und danach rufen wir den großen Unbekannten an, dessen Telefonnummer ich in meiner Tasche habe.»
Guerrini drängte sein linkes Bein noch näher an Lauras rechtes, und sie spürte atemlos den winzigen Lustimpulsen nach, die seine Berührung in ihr auslöste. Er aber betrachtete sie lächelnd und murmelte: «Es gibt keine so klaren Trennungen zwischen Pflicht und Lust, Commissaria! Der Übergang ist fließend!»
Laura hob die Augenbrauen.
«Wann also rufen wir ihn an? Ich meine, wir haben genau eineinhalb Tage und zwei Nächte, um uns an den Kerl heranzumachen. Das ist nicht viel, Commissario! Das musst selbst du als Vertreter des italienischen Pflichtbewusstseins zugeben, nicht wahr?»
Guerrini nickte und legte einen Arm um Lauras Schultern.
«Es ist nicht viel Zeit, aber wir werden es schaffen, Laura. Wir können gleich damit anfangen, wenn wir uns zum zweiten Mal seit drei Monaten geküsst haben. Meinst du, dass du das mit deinem deutschen Pflichtbewusstsein vereinbaren kannst?»
Sein Gesicht war sehr nah, so nah, dass Laura nur Ausschnitte davon wahrnehmen konnte. Die winzigen schwarzen Wurzeln seiner Bartstoppeln zum Beispiel, und seine Oberlippe. Und während diese Lippe sich langsam näherte, dachte sie, dass trotz aller Wortspiele und Scherze eine tiefe Wahrheit in ihrem Gespräch lag, dass sie das Ticken in ihrem Kopf inzwischen selbst ganz gut hören konnte und ihre Zweiteilung eine schlichte Tatsache war.
Dann aber waren seine beiden Lippen da, fühlten sich weich und trotzdem fest an, liebkosten sie
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