Wie man die richtige Arbeit für sich findet
kommen wir dann zu dem Ergebnis, dass wir unsere Prioritäten umkehren und, statt nach erfüllender Arbeit zu suchen, eine Arbeit anstreben sollten, die uns ein erfülltes Leben ermöglicht.
Der Philosoph Bertrand Russell kann uns bei diesen Fragen weiterhelfen. In seinem brillanten, 1932 verfassten Essay »Lob des Müßiggangs« schockierte Russell das Establishment mit der These, es werde »in der Welt zu viel gearbeitet«, und »die Überzeugung, Arbeiten sei an sich schon vortrefflich und eine Tugend, richtet ungeheuren Schaden an«. Russell konnte keinen einleuchtenden Grund dafür erkennen, warum Menschen mit viel Schweiß so viele Konsumgüter herstellen, die so wenig zur Steigerung der Lebensqualität beitragen. Mit vielen fortschrittlichen Denkern seiner Epoche, darunter der Ökonom John Maynard Keynes, teilte Russell die Überzeugung, dass das erreichte Wirtschaftswachstum und der technische Fortschritt es den meisten Menschen in den wohlhabenden Ländern erlaubten, einen angemessenen Lebensstandard zu haben, wenn sie nicht mehr als vier Stunden täglich arbeiteten. Russell fand, es tue dringend not, die Vorteile des Müßiggangs anzuerkennen. Unter »Müßiggang« verstand er allerdings nicht passiven Zeitvertreib, sondern Betätigungen, die uns zivilisatorisch voranbringen:
Wenn auf Erden niemand mehr gezwungen wäre, mehr als vier Stunden täglich zu arbeiten, würde jeder Wissbegierige seinen wissenschaftlichen Neigungen nachgehen können und jeder Maler könnte malen, ohne dabei zu verhungern, und wenn seine Bilder noch so gut wären … Vor allem aber wird es wieder Glück und Lebensfreude geben, statt der nervösen Gereiztheit, Übermüdung und schlechten Verdauung. 51
Falls Ihnen ein Vierstundentag doch ein bisschen zu gewagt scheint, lassen Sie uns realistischer überlegen, welche Vorteile – und Geldeinbußen – mit einem Wechsel zu einer Viertagewoche verbunden wären, einem sozialpolitischen Ziel, das seit den siebziger Jahren in der Diskussion steht und dem sich immer mehr Arbeitgeber anschließen. Oder Sie verkürzen Ihre Arbeitszeit wenigstens um eine Stunde pro Tag. Mit Sicherheit hätten Sie dann mehr Zeit für Ihre Familie und Ihre Freunde – genau das, was laut einer Erhebung der Work Foundation siebzig Prozent der Berufstätigen aufgrund ihrer Arbeitsüberlastung fehlt. Was meinen Sie, was Ihren Kindern lieber ist: dass Sie abends eine Stunde länger mit ihnen spielen oder dass Sie abends immer lange im Büro bleiben und so viel verdienen, dass Sie sich ein größeres Haus leisten können? Ein Freund sagte mir als Antwort auf diese Frage: »Ich glaube, meine Kinder hätten lieber mehr Vater als mehr Garten.«
Der Philosoph Bertrand Russell (rechts sitzend) vertrat die Ansicht, wir sollten alle nur vier Stunden pro Tag arbeiten. Er selbst nutzte seine »Freizeit« dafür, gemeinsam mit anderen die britische Campain for Nuclear Disarmament zu gründen.
(Bertrand Russell © Mary Evans Picture Library / Marx Memorial Library)
Der zweite Vorteil kürzerer Arbeitszeiten ist, wie Russell anführt, dass man außerhalb der Bürostunden Dinge tun kann, die die Lebensqualität steigern. Denken wir zum Beispiel an den amerikanischen Dichter Wallace Stevens. Tagsüber arbeitete er als Justitiar in der Versicherungswirtschaft und wurde schließlich Vizepräsident eines angesehen Unternehmens in Connecticut. Arbeitssüchtig war er allerdings nicht: Er ging abends nach Hause und schrieb Verse und gilt heute als einer der größten modernen Dichter des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Stevens hielt diese beiden Seiten seines Lebens immer getrennt: bei seiner Tagesarbeit, schrieb er, sei er sich immer ein bisschen wie ein Schwindler vorgekommen, so als spiele er Theater. Als seine »richtige Arbeit« betrachtet er die Poesie – auch wenn er dafür nicht bezahlt wurde – und wollte sie niemals dadurch kommerzialisieren, dass er »hauptberuflich« Dichter wurde. 1955 wurde er mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet und bekam daraufhin eine Stelle an der Fakultät von Harvard angeboten, die es ihm erlaubt hätte, von seiner Dichtung zu leben. Wallace lehnte das Angebot jedoch ab und blieb bei seiner Versicherungsfirma.
Kurz: Stevens entschied sich dafür, seinen Tagesberuf nicht zum Hauptinhalt seines Lebens zu machen. Er benutzte ihn nur als Fundament, auf dessen Basis er die ihm wichtigeren Ziele verfolgen konnte. In dem Sinne ist es gemeint, wenn ich davon spreche, Arbeit für ein erfüllendes
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