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Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)

Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)

Titel: Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maike Maja Nowak
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Können Sie mir sagen, wo ich sie finde?«, frage ich, etwas verunsichert über die Rolle des Mannes in diesem Haus.
    »Weeeß ick nich. Die wohnt über mir im Dachgeschoss und is mit de Hunde wech.«
    »Vielen Dank, dann warte ich hier«, sage ich.
    Fünf Minuten später fahren zwei Autos vor. Aus einem kleinen Wagen steigt eine junge Frau, die vermutlich Isabell ist. Der zweite Wagen gehört einem Filmteam, mit dem ich eine Serie über meine Arbeit mit Hunden und Menschen drehe. Regisseur und Kameramann kenne ich bereits, denn sie hatten 1997 Aufnahmen von meinem Leben im russischen Dorf Lipowka gemacht, in dem ich damals bereits sieben Jahre wohnte.
    »Wir haben Marcy schon bei ein paar Menschen- und Hundebegegnungen gefilmt, bevor du gekommen bist«, erklärt der Regisseur. Ich kenne die Hündin, Marcy, nur von einem kleinen Video, das Isabell mir schickte. Es zeigt den Moment ihrer Ankunft vor einem Jahr, als sie von Tierschützern aus Russland hierhergebracht worden war. Zu sehen ist eine vielleicht vierzig Zentimeter hohe Hündin, die wirkt wie ein grauer Husky-Mix. In dem Video verschwindet sie mehrmals panisch unter einer Gartenbank, um kurz darauf in hohen Tönen bellend wieder hervorzuschießen und abwehrend in die Luft zu schnappen. Das hat etwas Gespenstisches, weil niemand sie zuvor bedrängt hatte oder ihr näher gekommen war. Wenn möglich, entscheidet sich ein ängstlicher Hund für die Flucht, es sei denn, er sieht keinen Ausweg mehr. Der Anblick der um sich schnappenden Hündin, die von niemandem bedroht wird, legte den Verdacht nahe, dass sie in ihrem früheren Leben einer Bedrohung ausgesetzt war, der sie nicht entkommen konnte, und dass sie sich dieses Verhalten aus Notwehr zugelegt hat.
    Das Bellen, das heute aus dem Auto dringt, klingt jedoch nicht mehr nur ängstlich. Eine Spur von Aggression ist hinzugekommen. Als Isabell sie aus dem Auto holt, trägt Marcy den Schwanz steil nach oben gerichtet. Während die positive Dominanz eines souveränen Leithundes das Fundament seines Wesens darstellt, wirkt Marcys unechte Dominanz wie ein Dach auf sehr wackeligen Säulen. Neben ihrem ständigen Vor- und Zurückweichen verrät auch der panische Ausdruck in ihren Augen das Aufgesetzte ihrer selbstbewussten Schwanzhaltung.
    Obwohl es seltsam erscheinen mag, dass ein ängstlicher Hund zugleich Dominanz demonstrieren kann, ist die Erklärung dafür recht einfach: Sehr oft begegnen Menschen einem ängstlichen und/oder panischen Hund mit besonders viel Zuwendung und halten ihn von Regeln fern, weil sie darin ein unerwünschtes Druckmittel sehen oder weil sie selbst in keiner festen Struktur leben. Der Hund darf dann häufig viele Privilegien in Anspruch nehmen als Ausgleich für seine schlimme Vergangenheit. Der Hund kann diese Privilegien jedoch nur als Anerkennung seines ängstlichen Verhaltens deuten. In einer Gruppe muss es jedoch immer auch Regeln geben, weil sie der Stärkung der Gemeinschaft dienen und dem Einzelnen Sicherheit bieten. Fehlt jemand, der die Regeln aufstellt und durchsetzt, muss der Hund selbst diesen Platz einnehmen, um die Gruppe zu führen. Das Desaster ist wegen der Überforderung des Hundes natürlich bereits programmiert. Weder ein fähiger Leithund noch ein unfähiger Hund im Gefolge könnten sich im Dschungel unseres Lebens zurechtfinden und für uns sorgen. Wir finden uns ja häufig nicht einmal selbst darin zurecht.
    Auch die Hündin Marcy, die vor ihrem Haus aufgesetzte Dominanz demonstriert, versucht uns mit ihrem Bellen zu beeindrucken. Sie drückt die Fußgelenke durch, um entschlossener zu wirken, und in ihrem Bellen mischen sich Wut und Hysterie. Diese Wut entsteht häufig, wenn die Abwehrhandlungen nicht zum gewünschten Ziel führen. In Marcys Fall sind jeden Tag »unerwünschte« Menschen und Hunde auf »ihrem« Territorium unterwegs, ob sie nun bellt oder nicht. Das führt dazu, dass der Hund nach einiger Zeit durch die Erfolglosigkeit seiner Handlungen vollkommen frustriert ist. Sein ohnehin schwaches Selbstbewusstsein wird noch schwächer, und die Aggression steigt an.
    Die Bewegungen von Isabell dagegen wirken extrem verlangsamt und gehemmt. Obwohl sie denen des Hundes im Ausdruck genau entgegengesetzt sind, scheint die junge Frau und den jungen Hund ein gemeinsames Schicksal zu verbinden. Auch Isabell zeigt eine Schutzhaltung, die ich von Menschen kenne, die lernen mussten, nichts zu fühlen, um eine schlimme Situation aushalten zu können. Hält ein solcher

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