Wie weit du auch gehst ... (German Edition)
Geheimnissen, die alles, was bisher zwischen ihnen entstanden war, mit einem Schlag vernichten konnte.
Silas packte leise fluchend den Reisekoffer und stieg die Treppe hinauf. Manchmal wünschte er wirklich, sein inszeniertes Leben in Köln entspräche der Realität. Der Familientag im Park hatte ihm schmerzlich vor Augen geführt, auf was er, zugunsten seiner Rache, alles verzichtet hatte. Das hatte ihm nichts ausgemacht, war ihm nie als Mangel erschienen – bis vor wenigen Wochen. Bis er seinem letzten Auftrag persönlich begegnet war. Nevio hatte mit seiner Vermutung, Constanze würde alles verändern, voll und ganz ins Schwarze getroffen. Das tat sie wirklich. Und seltsamerweise genoss er dieses neue Gefühl. Erst dadurch spürte er, was es hieß, am Leben zu sein. Seine inneren Empfindungen waren längst nicht so abgestorben, wie er jahrelang gedacht hatte. Er hatte Frauen gehabt, das schon. Aber sein Herz war daran nie beteiligt gewesen. Bei Constanze sah es völlig anders aus. Schon jetzt, vor einem intimen Erlebnis, bedeutete sie ihm mehr als alles andere, sogar mehr als seine Zukunft in Chile. Wie musste es dann erst danach sein? Oder dabei?
Silas verließ das Haus durch die Hintertür und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Er konnte kaum erwarten, das herauszufinden.
Ohne Zwischenfälle landete er in Tschechien. Nachdem er mit altehrwürdiger Ruhe seinen Koffer von dem Gepäckband gepflückt hatte, machte er sich auf den Weg zu einem schäbigen, kleinen Hotel. Die windschiefe Hütte war jenseits allen Komforts, lag dafür aber in einer der belebten Straßen der Stadt, sodass es ihm jederzeit möglich war, ungesehen ein und aus zu gehen.
Er rechnete nicht damit, auf Schwierigkeiten zu stoßen, dafür war sein letzter Besuch zu lange her. Aber drauf verlassen würde er sich nicht. Der Teufel lag bekanntlich im Detail. Und genau das war es, was einen kleinen Zufall in eine Katastrophe verwandeln konnte. Man musste mit allem rechnen, auf alles gefasst sein und immer ein Ass im Ärmel haben – um es mit Nevios Worten auszudrücken.
Den ersten Tag vertrieb sich Silas mit einer seiner Tarnung entsprechenden Studie der Sehenswürdigkeiten. In Wahrheit frischte er seine Erinnerung auf und prägte sich wieder die verschiedenen Straßen und Kreuzungen ein. Es war wirklich eine Weile her, seit er hier gewesen war. Genauer gesagt neunzehn Jahre und drei Monate.
Ohne den Kopf zu heben, ging er an dem Haus vorbei, in dem er geboren war. Inzwischen befand sich eine Änderungsschneiderei darin, die offensichtlich einer chinesischen Familie gehörte. Die Dinge änderten sich, auch in Tschechien. Manches jedoch blieb immer gleich.
Bar jeder nach außen dringenden Emotion stand er wenig später vor der Stadtvilla des Selinski-Clans. Seit Menschengedenken gehörte dieses Bauwerk zu den teuersten und imposantesten der Gegend. Offenbar schwelgten die Selinskis immer noch unverändert im Reichtum, denn die gepflegte Fassade war, für das ungeschulte Auge versteckt, mit unzähligen Kameras überwacht.
Eine Weile betrachtete er reglos das Haus und fragte sich, ob er damals die richtige Entscheidung getroffen hatte oder ob er nicht doch einen zweiten Versuch hätte starten sollen, die Brüder über den Jordan zu schicken.
Er spürte dem Hass nach, der noch immer in ihm brodelte, und dachte plötzlich an Eliah. Als Silas ein kleiner Junge gewesen war, hatte er davon geträumt, mit einem Zirkus um die Welt zu reisen. Rückwirkend betrachtet war der Traum Wirklichkeit geworden, wenn auch anders als erwartet. Mit seinen Verwandlungskünsten und Kletterfähigkeiten würde er jedem Zirkus alle Ehre machen. Auch über einen Mangel an Reisen konnte er nicht klagen – was den Rest anging …
Ende der Märchenstunde.
Scheinbar interessiert las er in seinem Stadtführer und machte sich mit einem abgekauten Bleistift Notizen. Die Hieroglyphen galten jedoch weniger den Bauten als vielmehr den umherfahrenden Patrouillen.
Er hatte sich gegen 23 Uhr mit Mirco Stamrov, dem Fälscher, an der alten Zugbrücke verabredet, und dafür musste er wissen, wer da sonst noch so abhing. Sein alter Schulfreund aus Kindertagen hatte keine Ahnung, wen er bald treffen würde. Und dabei würde Silas es auch belassen. Je weniger Mirco über ihn wusste, desto besser für seine Gesundheit. Trotzdem war Silas gespannt, ob er den kleinen, stämmigen Straßenjungen von damals noch erkennen würde. Stamrov hatte ein ähnliches Schicksal
Weitere Kostenlose Bücher