Wielstadt-Trilogie Bd. 1 - Drachenklingen
schließlich Michel … Nur ein Mann ist zu so etwas in der Lage … Ein guter Mann …«
»Wie sollen wir das nur Sorer verklickern?«
Schönling sagte nichts dazu und ging neben dem letzten Toten, den er gefunden hatte, in die Hocke. Michel lag an der Türschwelle zu dem Zimmer, das den Raben wohl als Schlaflager gedient hatte, denn dort befanden sich noch Strohsäcke und Decken. Er trug keine Schuhe, und das Hemd hing ihm aus der Hose. Sein Schädel war eingeschlagen – die tödliche Waffe, der Schürhaken, lag neben ihm am Boden.
»Es muss früh am Morgen passiert sein«, schlussfolgerte Schönling. »Michel war gerade erst aufgestanden.«
Als er sich erhob, fiel ihm etwas auf.
Er runzelte die Stirn und zählte die Betten.
»Sechs Schlafstätten«, stellte er fest. »Einer von unseren Männern fehlt. Habt Ihr auch überall genau nachgesehen?«
»Der Kleine!«, rief einer der Raben. »Den hatte ich ganz vergessen! Weißt du nicht mehr? Er wollte unbedingt dabeisein, und Sorer hat es ihm schließlich …«
Er sprach nicht zu Ende.
Plötzlich waren dumpfe Schläge zu hören, und die Schurken zogen reflexartig ihre Degen.
Das Klopfen wiederholte sich.
Schönling und seine Kumpanen betraten das Gemeinschaftszimmer und schlichen auf Zehenspitzen zu einer kleinen Kammer, aus der das Geräusch zu kommen schien. Dann riss einer der Männer mit Schwung die Tür auf, und sie entdeckten den einzigen Überlebenden des Massakers.
Ein Jüngling von gerade mal vierzehn Jahren lag darin, geknebelt, gefesselt und mit rot geweinten Augen, und sah die Männer ängstlich und flehentlich an.
20
Es war bereits tiefe Nacht, aber bei Madame de Sovange verbreiteten unzählige Kerzen und Fackeln ein warmes Licht, das von den üppigen Goldverzierungen der Säle, den Kristallgläsern und Spiegeln reflektiert wurde.
Das Licht ließ die Schönheit der Frauen in ihrer prächtigen Abendgarderobe noch mehr erstrahlen, und auch die Männer hatten sich allesamt fein gemacht. Jeder, ob Frau oder Mann, hatte sich herausgeputzt wie für einen Besuch bei
Hofe. Und alle waren sie ganz begierig auf die Vergnügungen und Scherze, die Ludwig XIII. an seinem Hofe nicht duldete. Fernab des Einflusses dieses steifen und farblosen Monarchen, der sich für nichts als die Jagd begeistern konnte, amüsierte man sich hier blendend und in bester Gesellschaft. Man schwatzte und machte sich den Hof, man schlemmte und trank, kurz: Man genoss das Leben.
In der oberen Etage gab es Billardtische, auf denen man die Elfenbeinkugel mit gebogenen Stöcken anstieß. Hier und da standen Schach- und Damebretter oder Tricktrack-Spiele herum, die jeder nach Belieben nutzen konnte. Würfel rollten, aber vor allen Dingen vergnügte man sich beim Kartenspiel. Bei Pikett, Hoc, Ambigu, Impériale oder Triomphe wurden Vermögen verspielt oder gewonnen. Ein schlechtes Blatt genügte, und ein Erbe war verloren. Auf den wertvollen Teppichen lagen Juwelen, Schuldscheine und haufenweise Goldstücke herum.
Marciac hatte die angebliche Madame de Laremont bei der erstbesten Gelegenheit stehen lassen. So war sie zunächst ein wenig durch die verschiedenen Säle geschlendert und hatte einigen vermessenen Schmeichlern einen Korb erteilt, bevor sie die freundlichen Annäherungsversuche eines älteren Herrn akzeptierte.
Der Vicomte de Chauvigny war um die sechzig Jahre alt, hatte sich aber gut gehalten. Nur die fehlenden Zähne versuchte er beim Sprechen hinter einem vorgehaltenen Taschentuch zu verbergen. Er war sympathisch, amüsant und wusste wunderbare Anekdoten zu erzählen. Er machte Agnès den Hof, ohne sich ernsthafte Hoffnungen zu machen, einfach aus Freude an einer galanten Konversation, einer Kunst, die er vorzüglich beherrschte. Sicher hatte es Zeiten gegeben,
da er ein begehrenswerter Kavalier gewesen war und eine Eroberung nach der anderen vorzuweisen hatte.
Die junge Frau ließ ihn gern gewähren, da er sie nicht nur vor unerwünschten Belästigungen abschirmte, sondern weil sie ihm dabei auch ganz unmerklich und nebenbei so manche wertvolle Auskunft entlocken konnte. Sie hatte bereits in Erfahrung gebracht, dass der Chevalier d’Irebàn und Castilla tatsächlich bei der Sovange verkehrten, dass Irebàn allerdings seit einiger Zeit nicht mehr erschienen war, aber Castilla fast jeden Tag vorbeischaute, auch wenn er selten lange blieb.
Agnès blickte sich vergeblich nach Marciac um und entdeckte dabei eine rundliche Frau mit strenger Miene und hinterlistigem
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