Wielstadt-Trilogie Bd. 1 - Drachenklingen
Blick, deren bescheidene schwarze Robe so gar nicht in die Szenerie passen wollte. Sie schlich herum, plünderte Teller mit dem feinsten Gebäck und spähte dabei um sich, als läge sie auf der Lauer. Niemand schien sie zu bemerken, und doch gingen ihr alle aus dem Weg.
»Und wer ist das?«
Der Vicomte folgte ihrem Blick und sagte beiläufig: »Ach sie! Das ist die Rabier.«
»Wer soll das sein?«
»Eine niederträchtige Wucherin. Erlaubt mir, Euch einen Rat zu geben, Madame: Verkauft lieber Euer letztes Hemd und wandert nach Indien aus, als Euch Geld von dieser Halsabschneiderin zu borgen. Sonst saugt sie Euch das Blut aus, und zwar bis zum letzten Tropfen.«
»Man würde gar nicht meinen, dass sie so furchtbar ist …«
»Da täuscht Ihr Euch wie viele andere, die auf sie hereingefallen sind.«
»Und man lässt sie so einfach gewähren?«
»Wer sollte sie daran hindern? Jeder schuldet ihr ein bisschen, und sie ist nur grausam zu denen, die ihr viel schuldig bleiben.«
Nachdem sie sich noch einmal misstrauisch umgesehen hatte, verließ die Rabier den Raum.
»Wünscht Ihr noch etwas zu trinken, Madame?«, fragte Chauvigny.
»Sehr gern.«
Der Vicomte ging und kam kurz darauf mit zwei Gläsern zurück.
»Vielen Dank.«
»Auf Euer Wohl, Madame.«
Sie stießen klirrend miteinander an und tranken einen Schluck. Im Plauderton fuhr der alte Edelmann fort: »Ach übrigens, ich habe soeben diesen Hidalgo gesehen, von dem Ihr vorhin spracht …«
»Castilla? Wo denn?«
»Dort, an der Tür. Ich glaube, er wollte gerade gehen.«
»Würdet Ihr mich bitte einen Augenblick entschuldigen«, sagte Agnès und drückte Chauvigny ihr Glas in die Hand. »Ich müsste dringend mit ihm sprechen …«
Sie eilte zum Eingang und erkannte Castilla anhand der Beschreibung, die der Wirt aus der Rue de Clef gegeben hatte. Er war schlank, gutaussehend, hatte ein dünnes Schnurrbärt chen und pechschwarze Augen. Gerade ging er die Außentreppe hinunter, und auf dem Weg verabschiedete er sich mit starkem spanischen Akzent von einem Bekannten.
Agnès musste ihn ansprechen. Aber unter welchem Vorwand? Und was sollte dann geschehen?
Nein, es war wohl doch besser, ihm zu folgen.
Das Problem war nur, dass Ballardieu nirgends zu sehen
war. Und sie konnte Castilla ja schlecht in Abendkleid und hohen Schuhen durch das nächtliche Paris verfolgen. Wenn nur Marciac die Güte besäße, wieder aufzutauchen!
»Gibt es ein Problem?«, erkundigte sich die Sovange.
»Überhaupt nicht, Madame. Überhaupt nicht … Ist das nicht Monsieur Castilla, der sich dort entfernt?«
»Doch, gewiss. Kennt Ihr ihn?«
»Habt Ihr vielleicht eine Ahnung, wo sich der Marquis befindet?«
»Bedaure.«
Die junge Frau war beunruhigt und kehrte in die Salons zurück, ignorierte Chauvigny, der ihr von weitem freundlich zulächelte, und machte sich eilig auf die Suche nach Marciac. Als sie an einem Fenster vorbeiging, bemerkte sie Castilla, der gerade durch das Hofportal ging. Wenigstens war er zu Fuß unterwegs …
Da erschien der Gascogner endlich durch eine der Salontüren.
Agnès kümmerte sich nicht um die besorgte Miene, die er zur Schau stellte. Sie hielt ihn am Arm fest. »Verflixt, Marciac! Wo warst du denn?«
»Ich? Ich …«
»Castilla war hier. Er ist gerade gegangen!«
»Castilla?«, fragte Marciac, als würde er diesen Namen zum ersten Mal hören.
»Ja, Castilla! Verdammt, Marciac, so reiß dich doch zusammen!«
Marciac schloss die Augen und atmete tief durch. »Ist ja gut«, sagte er. »Was erwartest du denn von mir?«
»Er hat das Palais zu Fuß verlassen. Wenn ihn niemand draußen auf der Straße mit einer Kutsche oder einem Pferd
erwartet hat, kannst du ihn noch einholen. Er hat eine rote Feder am Hut. Finde raus, wohin er geht. Und bleib ihm dicht auf den Fersen!«
»Geht in Ordnung.«
Marciac setzte sich in Bewegung.
Die junge Baronin blieb einen Moment stehen und sah ihm besorgt nach. Irgendetwas hatte sie misstrauisch gemacht, also ging sie auf die Tür zu, aus der der Gascogner gekommen war. Sie führte zu einem fensterlosen Nebenzimmer, das nur von wenigen Kerzen erleuchtet wurde.
Mit einem Teller voll Schleckereien aus Marzipan in der Hand saß dort die Rabier und nickte Agnès höflich, aber reserviert zu.
21
In dieser Nacht begegnete Saint-Lucq Rochefort in einem Nebenzimmer des Kardinalspalais. Sie nickten sich kurz zu. Jeder nahm den anderen wahr, ohne dass man ihm irgendeine Regung ansehen konnte. Sie begrüßten
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