Wielstadt-Trilogie Bd. 1 - Drachenklingen
davon. Auch Marciac, der unentdeckt geblieben war, verließ seinen Beobachtungsposten.
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Nach Einbruch der Nacht verließ Laincourt schmutzig und unrasiert Châtelet . Man hatte ihm seine Kleider, den Hut und den Degen wieder ausgehändigt, doch die Wachen hatten
sich des Inhalts seiner Börse bemächtigt. Das war nicht anders zu erwarten gewesen, und so hatte er sich gar nicht erst darüber beschwert. Ehrlichkeit war bei der Auswahl der Kerkermeister kein Kriterium, wie auch bei den meisten anderen Posten im Dienste der königlichen Justiz.
Der Gefängnisaufenthalt hatte ihn geschwächt. Rücken und Nacken schmerzten, und ihn plagte heftiges Kopfweh. Seine Augen brannten, und er fühlte sich leicht fiebrig. Hunger hatte er nicht, aber er wünschte sich nichts sehnlicher als ein schönes weiches Bett.
Von Châtelet aus gelangte man leicht zur Rue de la Ferronnerie , wenn man ein Stück der Rue Saint-Denis folgte. Aber er war sicher, dass sein Zuhause von den Männern des Kardinals durchsucht worden war – sicher ohne hinterher wieder Ordnung zu schaffen. Wahrscheinlich hatten sie einen Riesenradau veranstaltet, der die ganze Nachbarschaft aufgeschreckt hatte. Bestimmt wurde im Viertel von nichts anderem mehr geredet. Zwar fürchtete Laincourt die Blicke der Leute nicht, doch es zog ihn auch nichts mehr in die Rue de la Feronnerie , jetzt, da es einen gewissen Laincourt, Leutnant der Kardinalsgarde, nicht mehr gab.
Aber er hatte eine zweite Bleibe, von der niemand wusste, und wo er die einzigen Dinge aufbewahrte, die für ihn von Wert waren: seine Bücher. Dennoch entschloss er sich nicht direkt dorthin zu gehen, sondern schlug zunächst den Weg in die Rue de la Tisseranderie bis zum Friedhof Saint-Jean ein. Aus dem Verdacht heraus, verfolgt zu werden, machte er einige Umwege durch verwinkelte Gassen und Irrgärten von Hinterhöfen.
Dies war das ganz alte Paris mit Gässchen, die so verschlun genen und verschachtelt waren, dass kaum je das Tageslicht
in sie drang, in denen die stickige Luft stand und sich das Ungeziefer ausbreitete. Auch der Morast in den Straßen stand hier höher als anderswo in der Stadt. Er bedeckte das Pflaster vollständig, klebte sogar an den Wänden, spritzte bei jedem Schritt auf und klebte an den Sohlen fest. Die stinken de Masse bestand aus Pferdeäpfeln und Kuhfladen, Erde, Sand, Verdorbenem, Stallmist, Exkrementen, Fleischresten aus den Metzgereien und den Arbeitsabfällen der Gerber und Kürschner. Sie trocknete niemals, fraß sich durch den Stoff der Beinkleider, sogar durch Leder. Um die Kleidung davor zu schützen, musste man als Fußgänger Stiefel tragen. Wer es sich leisten konnte, fuhr mit der Kutsche, ließ sich in einer Sänfte befördern, ritt auf einem Pferd, Maultier … oder ließ sich sogar von anderen auf dem Rücken tragen. Nur selten verschlug es die Müllsammler dorthin, um das Allergröbste zu beseitigten. Ihre stinkende Fracht luden sie dann an den neuen Sammelstellen außerhalb der Stadt ab, denn die Bauern der Umgebung wussten den Pariser Dreck zu schätzen. Sie kamen täglich, schaufelten ihre Karren damit voll und brachten ihn auf ihren Feldern aus. Die Pariser konnten sich nicht verkneifen, anzumerken, dass die Schmutzabladeplätze vor der Stadt sauberer seien als die Straßen der Hauptstadt.
Laincourt öffnete die Tür einer Taverne und betrat eine Gaststube, in der die Luft stand, schwer vom Pfeifenrauch und dem Qualm billiger Talgkerzen. Der Ort war ärmlich, schmutzig und voller Gestank. Die wenigen Gäste waren schweigsam und wirkten schwermütig, als würden sie alle vom Gewicht einer ansteckenden Traurigkeit niedergedrückt. Ein alter Mann spielte melancholische Weisen auf einer Drehleier. Er trug abgenutzte Kleider und einen schäbigen
Hut, an dessen hochgebogener Krempe die kläglichen Reste einer Feder steckten. Ein mickriger, einäugiger Dragun hockte angeleint auf seiner Schulter.
Laincourt nahm an einem Tisch Platz, und schon wurde ihm ungefragt ein Becher, gefüllt mit einem üblen Rachenputzer, hingestellt. Er nippte daran und verzog das Gesicht, zwang sich dann aber, das Gesöff zu trinken, in der Hoffnung, dass dadurch seine Lebensgeister wieder erwachten. Der Leierspieler unterbrach bald darauf sein trauriges Spiel vor einem gleichgültigen Publikum und setzte sich zu Laincourt an den Tisch.
»Du siehst schlecht aus, mein Junge.«
»Du wirst meine Zeche zahlen müssen. Ich habe keinen müden Sou mehr in der Tasche.«
Der Alte
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