Wiener Requiem
näherte sich der Oper von der Rückseite, vom Inneren Bezirk. Dabei fielen ihm all die Skandale und Tragödien ein, welche die schwere Geburt dieses illustren Gebäudes begleitet hatten. Die Hofoper war für Tragödien geradezu prädestiniert und nicht allein für solche auf der Bühne.
Die Architekten August von Siccardsburg und Eduard van der Nüll waren in Wien hoch geachtet und schon vor der Ausschreibung zum Bau des Opernhauses enge Freunde und Kollegen gewesen. Als 1860 der Wettbewerb angekündigt wurde, reichten sie ihren Entwurf anonym ein, so wie es den Regeln des Wettbewerbs entsprach. Aber durch einen Sinnspruch wurde ihre Arbeit identifiziert. Im Nachhinein betrachtet hatten sie sich damals für einen Spruch entschieden, der das kommendeUnheil bereits anzukündigen schien: »Fais ce que dois, advienne que pourra.« – »Tue recht und scheue niemand.«
Ihr Entwurf für ein monumentales neues Opernhaus, das das alte, in der Nähe gelegene Gebäude ersetzen sollte, wurde von der Presse zunächst überschwänglich begrüßt. Man schrieb, die Architekten hätten ihren Plan geradezu
komponiert
und nicht nur entworfen. Schon das geplante Äußere der Oper war imposant, aber die Pläne für das Innere zeigten, so schrieben die Zeitungen, dass die Kaiserliche Hofoper eine ganz neue Klasse erschaffen würde. Man begeisterte sich für den zentralen, verschwenderisch noblen Treppenaufgang und die Salons, den mit Statuen und Gemälden reich bestückten großen Zuschauerraum, geschaffen von den besten Künstler des Kaiserreichs.
Aber die Flitterwochen waren nur kurz. Man begann mit dem Bau im folgenden Jahr, die Kosten explodierten, und die Arbeiten verzögerten sich immer mehr. Etwas anderes jedoch war noch viel schlimmer. Das Niveau der neugeschaffenen Ringstraße lag plötzlich um mehrere Meter höher als ursprünglich geplant. Dementsprechend lag der Eingangsbereich der Oper, als der Bau 1868 endlich abgeschlossen war, deutlich unter dem Straßenniveau.
Die Presse, die immer auf der Suche nach Schlagzeilen war, nannte das neue Gebäude eine versunkene Truhe und »das Königgrätz der Architektur«. Man spielte damit auf die Niederlage der Österreichischen Truppen im Kampf gegen die Preußen von 1866 an. Als der Kaiser dann recht salopp zu einem Adjudanten bemerkte, dass der Eingang ja in der Tat recht tief liege, erwuchs daraus eine ganz typische Wiener Tragödie. Nüll konnte diese Kritik nicht ertragen und erhängte sich im April1868; sein Freund Siccardsburg starb nur zwei Monate später, an »gebrochenem Herzen«, so kolportierte es die niederträchtige Presse. Keiner der beiden erlebte die Fertigstellung des von ihnen »komponierten« Werkes. Die Öffentlichkeit lernte dann, mit dem unter Straßenniveau gelegenen Eingang zu leben, und der Kaiser, durch diese Erfahrung klüger geworden, zwang sich seitdem zu dem Satz »Alles sehr schön, gefällt mir sehr gut«, wann immer man bei einer öffentlichen Veranstaltung um sein Urteil bat.
Werthen betrat das Gebäude durch einen Seitengang und ging in Richtung des Auditoriums, wo der für Mahler eingesprungene Richter den
Tannhäuser
dirigierte. Der Platz des dritten Geigers war neu besetzt. Ein bärtiger Mann mittleren Alters hatte den Platz des verstorbenen Herrn Gunther übernommen. Rosé nickte Werthen zu, als er ihn entdeckte, und sie nahmen in den roten Plüschsesseln im Parkett Platz, als die anderen Orchestermitglieder den Saal für eine Kaffeepause verließen.
»Sehr freundlich von Ihnen, dass Sie mich empfangen. Möchten Sie etwas essen oder trinken, während wir miteinander reden?«, fragte Werthen.
»Ich esse nur wenig« sagte der große, elegant wirkende Geiger. »Ich vermute, Sie wollen mit mir über diese Attacken gegen Gustav sprechen.«
»Attacken?«
»Aber bitte, Herr Advokat. Justi und ich haben keine Geheimnisse voreinander. Das war keine Serie von Unfällen, sondern der eindeutige Versuch, Mahler zu töten. Und um Ihrer nächsten Frage zuvorzukommen: Ich bin es nicht gewesen. Ob Gustav sich nun dazu entschließt, seine Schwester aus seinemTestament zu streichen, sofern wir heiraten, oder dies bleiben lässt, ist mir völlig gleichgültig.«
»Und Ihre Position im Orchester?«
»Bei mir liegt der Sachverhalt ein wenig anders als bei meinem Bruder. Im Gegensatz zu ihm habe ich in der Musikwelt Wiens durchaus eine starke Position. Meine Stellung ist mir sicher, man kann sie mir nicht so einfach aus persönlicher Bosheit wegnehmen.
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