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Wiener Schweigen

Wiener Schweigen

Titel: Wiener Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Strohschein
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gleiten, der direkt an die ehemalige Villa des Bankiers Leopold von Wertheimstein anschloss.
    Wütendes Hundegebell drang hinter den dichten Büschen hervor, gefolgt von einer schimpfenden und sich überschlagenden Greisinnenstimme: »Passen S’ auf Ihren gschissenen Köter auf, Se Trampel, Se!«
    »Und Se passen S’ auf, wos S’ sogn, sonst tret i Ihna in Ihran knöcharnen Oarsch!«, konterte eine zweite.
    Rosa verdrehte die Augen und ging auf das niedrige dunkelgrün gestrichene Eingangstor zu.
    Nobel, mit der höchsten Dichte an Witwen von Wiener Geheimräten, dieser 19. Bezirk, dachte Rosa zynisch und drückte die Eingangstür auf.
    Ein schmales, wie ein Schneckenhaus gewundenes Stiegenhaus mit dicken weiß gekalkten Wänden führte in den ersten Stock. Rosa sah sich die Bilder, die an der Wand hingen, lange an. Eine Ansicht des Kuchelauer Hafens Anfang des 18. Jahrhunderts ließ erkennen, dass das Ufer der Donau damals noch unbefestigt gewesen war. Eine flache Sandbank, auf der Fischer ihre Gerätschaften ausgebreitet hatten, führte ins Wasser.
    Eine idyllische Landschaft hatte das Kahlenbergerdorf einst umgeben, bevor der Strand einer massiven Uferbefestigung hatte weichen müssen und durch den Bau der Nussdorfer Schleuse der Wasserstand der Donau gesichert worden war. Die Küchengärten, oder »Kuchelgärten in der Au«, wichen zur selben Zeit der Hafenstraße und gaben der Region am Fuße des Leopoldsbergs ihr heutiges Aussehen.
    Im ersten Stock wurde sie von einer älteren Dame begrüßt, die danach mit ruhiger Stimme auf einen Pekinesen einredete, der unter ihrem Sessel lag und Rosa anknurrte.
    Warum haben nur so viele alte Menschen in dieser Stadt kleine, bissige Hunde, die alles zuscheißen, dachte Rosa und atmete den unverkennbaren, leicht scharfen Geruch von billiger Farbe naiver Ölgemälde, alten Fotos, nicht gelüfteten Räumen und Staub ein. Sie musste an Klassenausflüge und Vorträge ehrenamtlicher Führer und Führerinnen in den diversen Bezirksmuseen in Wien während ihrer Schulzeit denken.
    Sie wandte sich nach rechts und betrat einen Raum mit Stellwänden, an denen Schwarz-Weiß-Fotografien befestigt waren. Lange betrachtete sie die ausgehängten Exponate und versuchte, sich ein Bild vom Dorf und der Umgebung um 1900 zu machen. Auf einer der Stellwände las sie über die Eingemeindung vom Kahlenbergerdorf in die Stadt Wien und den 19. Bezirk im Jahr 1891. Laut dem Zitat des Pfarrers Dunstan Blosch schienen die Bewohner des kleinen Ortes nicht gerade begeistert über diesen Zusammenschluss gewesen zu sein: »Da wir nicht viel verlieren können, weil wir wenig haben, so muß wohl dieses Ereignis als ein für uns glückliches angesehen werden, wegen der Vorteile, die ein großes, geldkräftiges Gemeinwesen bietet.«
    Besonders interessant fand Rosa, dass das Kahlenbergerdorf vor diesem Anschluss ein lebendiges Dorf gewesen war, mit zahlreichen Geschäften in der Bloschgasse, in der heute nur noch der Laden der Krautfrau existierte. Auch eine eigene Schule und ein Kinderasylheim hatte man vor rund hundert Jahren dort finden können.
    Im Jahre 1882 wurden die Weinstöcke ums Kahlenbergerdorf von der Reblaus, einem Pflanzenschädling, befallen. Fotografien aus der Folgezeit zeigten Wiesen und weidende Kühe an den Hängen von Kahlen- und Leopoldsberg. Erst in den zwanziger Jahren, nachdem schädlingsresistentere Weinsorten zur Verfügung gestanden waren, hatte sich der Weinbau erholt. Nach dem Aussterben der Kahlenbergerdorfer Hauerdynastien dominierte heute vor allem das »Stiftsweingut Kahlenbergerdorf« mit der Weinkultur der Augustiner Chorherrn des Stiftes die Weinbauszene.
    »Dann gehört fast das ganze Land um das Dorf dem Stift Klosterneuburg«, sagte Rosa leise und begann, an ihren Nägeln zu beißen.
    In einem Extraraum, in dem man Einzelheiten über die geologische Beschaffenheit der Region erfahren konnte, las Rosa einen Bericht über einen Hangrutsch im Jahr 1876 im Bereich des Kammerjochs, das etwas nördlich von der Stelle lag, an der die Mure vor ein paar Tagen abgegangen war.
    Also war die Gegend um den Leopoldsberg schon immer anfällig für Murenabgänge, dachte sie und rieb sich die Augen, die vom Lesen bei schlechter Beleuchtung trocken geworden waren. Aber wer legte in einem Hang, der sich bewegte, ein Massengrab an?
    Rosa schrak aus ihren Gedanken, als der Wind an den Kastenfenstern rüttelte. Er fuhr durch die Baumkronen des Wertheimsteinparks, den sie durch die

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