Wiener Schweigen
Lust auf Wein, sie trank fast einen Liter Wasser zum Essen und starrte danach auf die dunkle Wiese vor ihrem Haus, über der die Glühwürmchen schwebten.
Mit einem Schlag waren alle Fragen wieder da. War Schurrauer wirklich angegriffen worden, oder hatte er einen Unfall gehabt? Was hatte der Stein in seinem Mund zu bedeuten? Sie konnte es kaum erwarten, ihn sich näher anzusehen. Was war im Kahlenbergerdorf zu Michaeli passiert, als der Teufel, wie auf dem Zettel geschrieben stand, dort getanzt hatte? Wo war die verdammte Ikone? Wer hatte Andrzej und Friedrich Kobald ermordet? Hatte Paul ihr tatsächlich in seinen Aufzeichnungen eine Nachricht mit den roten Buchstaben, die ihren Namen bildeten, hinterlassen? Und wenn ja, was hatte er bloß mit Gen. 16,1; Infer. gemeint? Warum hatte er ihr an dem Tag des Unfalls nicht erzählt, dass er nach Wien in die Bakk Pharm AG fahren wollte? Und warum rief dieser verdammte Daniel Mühlböck nicht an? Sie beschloss, ins Bett zu gehen, bevor sie sich noch weiter den Kopf sinnlos zerbrach. Müde stieg sie in den ersten Stock hinauf.
Auch über das Kahlenbergerdorf senkte sich die Nacht. Vier Gestalten trafen einander bei einer Weingartenhütte nahe dem Waldbachsteig.
»Hast ihn erwischt?«, fragte die eine.
In der Dunkelheit leuchtete ein Feuerzeug auf, mit dem eine Zigarette angezündet wurde.
»Hm«, brummte die zweite zustimmend.
»Hat er dich gsehn?«, wollte die dritte wissen und schob sich den Hut in den Nacken.
»Nein, ging schnell. Hat Nüsse gessen.«
»Wie, Nüsse?«
»Na, hat sich eine Nuss ins Maul gstopft, kurz bevor er eingangen is.«
»Ah.«
Dann trat eine Pause ein.
»Is er hin?«
»Nein, hab nicht fest zugschlagen. Rettung hat ihn gholt.«
Sie schwiegen einige Zeit. In der hereinbrechenden Nacht konnte man nur die glühenden Enden ihrer Pfeifen und Zigaretten erkennen.
»Jetzt wern s’ uns hoffentlich in Ruh lassen.«
14
Rosa war um sechs Uhr aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen. Da sie mit einem anstrengenden Tag rechnete und ihr die unregelmäßigen Mahlzeiten der letzten Tage viel Kraft genommen hatten, stellte sie sich einen Topf mit Hirse zu. Sie ließ den Brei mit einer Zimtstange aufkochen und rührte noch ein paar Rosinen unter. Während sie eine Handvoll Nüsse in einer Pfanne anröstete, brodelte der Kaffee schon leise in der Espressokanne am Herd. Sie plante, sich nach dem Frühstück um ihren vernachlässigten Garten zu kümmern.
In den frühen Morgenstunden hatte es geregnet. Rosa band die Zweige von ein paar Sträuchern hoch und rechte Laub von dem kleinen Weg aus Natursteinen, der sich durch den Rasen schlängelte. Die Kraft der Sonne wurde noch von ein paar dunstigen Wolkenfeldern gedämmt, die Landschaft dampfte nach dem nächtlichen Niederschlag.
Als Liebhart sie um acht Uhr anrief, stand sie in Gummistiefeln, einer abgeschnittenen Jean und einem mit Erde verschmierten T-Shirt mitten in der Wiese vor ihrem Haus und suchte ihre Katze, die in der Nacht nicht nach Hause gekommen war.
»Wie hast du geschlafen?«, fragte er.
»Wie ein Stein.«
»Ich hab kein Auge zugemacht.« Rosa konnte den vorwurfsvollen Klang in seiner Stimme hören.
»Wir brauchen jetzt unsere Kraft. Es bringt Schurrauer nichts, wenn wir nicht weitermachen können, weil uns die Luft ausgeht«, erwiderte sie fest. Sie hielt den Nacken in die milde Wärme, ihre Beine waren feucht vom Gras, das auf ihrer Haut kitzelte. Telefonierend streifte sie durch die Wiese und zerrieb zerstreut den Blütenkopf einer Schafgarbe zwischen den Fingern.
»Die Spurensicherung hat den Stein aus Schurrauers Mund untersucht. Du kannst ihn dir in einer Stunde im Labor ansehen.«
»Bin unterwegs!« Sie legte auf und lief ins Haus, um sich fertig zu machen.
Auf dem Weg nach Wien fuhr Rosa an weiten Feldern vorbei, auf denen hoch das Heu stand. Sie wusste, dass die Bauern nur darauf warteten, dass es einige Tage trocken blieb, um es einholen zu können. Nach der letzten Nacht mussten sie sich wohl noch ein wenig gedulden. Stellenweise dürfte der Regen recht stark gewesen sein, an manchen Stellen waren die Halme geknickt. Als sie das Labor der Kulturfahndung betrat, wartete Frau Dr. Reschreiter schon mit dem Bericht der Spurensicherung auf sie.
»In Anbetracht der Lage haben wir der Untersuchung des Steines höchste Priorität eingeräumt«, meinte die Laborleiterin.
Rosa konnte auch ihr die Bestürzung über den Angriff auf Schurrauer anmerken.
Auf einer
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