Wiener Schweigen
noch immer nicht, worin sich das Gift befunden hatte.
Johanna blieb einige Zeit bei Rosa, die sich langsam erholte. Nach zwei Tagen konnte sie feste Nahrung zu sich nehmen, ohne diese sofort wieder zu erbrechen. Ihre Pupillen hatten wieder eine normale Größe angenommen, und ihr brach auch nicht mehr bei der kleinsten Anstrengung der Schweiß aus.
Am Donnerstag hatte es schon um zehn Uhr morgens achtunddreißig Grad. Rosa lag im kühlen Wohnzimmer auf dem Sofa und las Zeitung, während Johanna in der Küche stand und Hühnerbrüste in eine leichte Marinade legte, um sie bis zum Mittagessen ziehen zu lassen. Unter normalen Umständen hätte es Rosa keine halbe Stunde zu Hause ausgehalten, sie hätte auf einem Ausflug oder auf Gartenarbeit bestanden. Doch durch die Nebenwirkungen der Droge war sie leider zu überhaupt nichts imstande, abgesehen davon tat ihr jeder Muskel im Körper weh, und eine alles lähmende Müdigkeit hatte sie fest im Griff.
Johanna wollte sie zu einem Seebesuch überreden. »Schätzchen, du klebst schon am Sofa fest. Wir brechen in einer halben Stunde auf, du bekommst einen Schattenplatz mit Liegestuhl und darfst Ludwig, Yvonne und mir bei unserer Schwimmkür zusehen.«
»Können wir nicht warten, bis die Eichhörnchen nicht mehr in der Hitze schmelzen?«, entgegnete Rosa müde und legte die Zeitung beiseite.
»Am See unten zerplatzen sie, das ist wie ein Feuerwerk, und das lassen wir uns nicht entgehen.«
Eine Stunde später hatten sie ihren Badeplatz am Ufer des Sees erreicht. Rosa trug einen breitkrempigen Sonnenhut, lag im Schatten auf einem Liegestuhl und sah Johanna bei ihrer täuschend echten Darbietung einer Bibermutter, die ihrem Kind das Schwimmen beibringt, zu. Leider wehrte sich Ludwig lautstark dagegen, das Biberkind zu sein.
Rosa fuhr sich mit der Zunge unablässig über die Zähne und beschloss, so bald wie möglich zum Arzt zu gehen. Sie sah ihren Freunden zu, wie sie im See schwammen, und versuchte, ihre Gedanken wieder auf die Reihe zu bekommen. Die Schmerzen nach dem Sturz von der Plattform und die Tatsache, dass ihr jemand nach dem Leben trachtete, beschäftigten sie so sehr, dass sie das Gefühl hatte, den Anschluss an die Ermittlungen um die Brandstiftungen und Morde verloren zu haben.
Obwohl sie noch sehr schwach war, spürte sie Unwillen darüber, dass sie im Fall auf der Stelle traten. Die befragten Familien mauerten gegenüber der Polizei. Auch im Labor konnte man keine Spuren finden, die sie weiterbrachten. Sie wussten nicht, wo die Mordwaffe war. Sie wussten nicht, wo die Ikone, mit der alles begonnen hatte, war und wo sich der restliche Kirchenschatz, so es denn einen gab, befand. Die Nachricht im Brustkreuz brachte nur die Gewissheit, dass »zu Michaeli im Kahlenbergerdorf der Teufel getanzt hatte«. Dann waren da noch fünfunddreißig Skelette von Menschen, die sich vor Jahrzehnten gegenseitig angefressen hatten und unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen waren. Und zu guter Letzt gab es noch die DNA auf Andrzejs Rucksack, die von einer Enkeltochter eines Verstorbenen aus dem Massengrab stammte.
Rosa stand vorsichtig auf, sie wollte ihre Zehen ins Wasser halten. Als sie in die Sonne trat, begann sie zu frösteln. Ihre Haut war sehr empfindlich, sie blieb ein paar Minuten stehen, um sich an die Wärme zu gewöhnen. Die erste Berührung mit dem Wasser schoss ihr wie ein Stromschlag bis in die Haarwurzeln. Als sie bis zur Hüfte im See stand, ließ sie sich ein wenig treiben. Schwimmen ging wegen des verstauchten Handgelenkes noch nicht. Trotz Plastikschiene konnte Rosa die Hand noch immer ein wenig bewegen, und das tat weh. Zehn Minuten später stieg sie wieder an Land und fühlte sich wie neugeboren. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, aber die bleierne Trägheit war von ihr abgefallen. Sie setzte sich zu Yvonne auf eine karierte Decke. Als Johanna einen großen Picknickkorb mit Schinkenbroten und kalten Getränken anschleppte, verschob Rosa den Zahnarztbesuch auf den nächsten Tag.
Sie blieben noch bis zur Dämmerung am See, der sich in den frühen Abendstunden, als sich das Tageslicht am Horizont zurückzog, von Touristen leerte. Im Seerestaurant auf der anderen Uferseite deckten Kellner mit leuchtend weißen Hemden die Tische mit ebenso leuchtend weißen Tischtüchern. Rosa dachte an Mühlböck und daran, dass sie ihn am Tag ihres Ausfluges eigentlich hatte anrufen wollen. Sie fühlte sich aber zu schwach, um das jetzt nachzuholen. Die
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