Wienerherz - Kriminalroman
Worten erzählte er von den mutmaßlichen Verwicklungen Billings in Dorins Geschäfte.
»Sie nerven«, erklärte der Richter. »Wann, sagten Sie, soll der Mann unter die Erde?«
»Morgen.«
»Da soll ich heute noch eine Obduktion anordnen?«
»Genau deshalb. Sie wollen sich doch nichts vorwerfen lassen.«
»Hören Sie auf damit! Das grenzt an Nötigung, was Sie da machen!«
Freund platzte der Kragen.
Eins.
Zwei.
Drei.
Er brauchte den Mann, daran führte nichts vorbei.
»Sie haben recht. Entschuldigen Sie bitte. Ich halte es trotzdem für angebracht, diesen Tod noch einmal untersuchen zu lassen. Stellen Sie sich vor, an der Geschichte ist etwas dran. Und wir hätten den ersten Anstoß zur Aufklärung gegeben.«
Stille am anderen Ende. Dann: »Sie sind unmöglich. Aber Sie müssen es ja der Witwe erklären. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen.«
Gelbe Blätter
Einmal im Jahr, zu Allerheiligen oder Allerseelen, fuhr Freund zum Wiener Zentralfriedhof, um das Grab seiner Mutter und anderer Verwandter zu besuchen. Selten, wenn er es für angebracht oder notwendig hielt, wohnte er Begräbnissen von Mordopfern bei. Als Ausflugsziel gehörte die Ruhestätte nicht zu seinen bevorzugten Zielen. Doch wenn er einmal da war, konnte er sich der Atmosphäre nicht entziehen.
Flächenmäßig der zweitgrößte Europas, war der Wiener Zentralfriedhof, zählte man die dort Begrabenen, sogar mit Abstand der größte. Die heute besungene Sehenswürdigkeit hatten die Wiener jedoch nicht immer geschätzt. Als er 1874 eröffnet wurde, lag er den Stadtbewohnern zu weit außerhalb, und die Anrainer der Simmeringer Hauptstraße beschwerten sich bald über die endlosen Kolonnen von Pferdekutschen mit Särgen, die jeden Tag an ihnen vorbeizogen. Um die Popularität der neuen »Totenstadt« zu steigern, griffen die Stadtväter zu einem Trick. Friedhofsmarketing würde man das heute wohl nennen, dachte Freund, makaber. Kurzerhand richteten sie ein Areal mit Ehrengräbern ein, in das sie prominente Tote wie Beethoven oder Schubert von anderen Friedhöfen umbetten ließen. Die benachbarten Reihen rund um die Karl-Borromäus-Kirche gehörten für einflussreiche Wiener Familien zu den begehrten Orten für die letzte Ruhe. Auch unter der Erde wollte man unter sich bleiben.
In der Kirche setzte er sich in eine der hinteren Reihen und hörte dem Gottesdienst zu. Nur die vorderen Bänke waren besetzt, Freund zählte rund drei Dutzend Trauergäste. Er sah die Eltern und Brüder, Manuela Korn mit ihrer Tochter Marlies. Die zweite Ex-Frau Florian Dorins und ihre beiden Kinder kannte er von Fotos. Niemand weinte.
Während der Predigt bewunderte Freund vor allem die Ausstattung des Jugendstilbaus. Er dachte daran, dass auf demselben Friedhof in wenigen Stunden Fritz Billing zu Grabe getragen würde. Nachdem ihn die Gerichtsmedizin in einer Hauruck-Aktion über Nacht noch obduziert hatte. Das Ergebnis sollte er bei seiner Rückkehr ins Büro auf dem Tisch haben.
Beim Auszug studierte er die Gesichter der Anwesenden. Annemarie Dorins Antlitz war eine graue Maske. Ihr Mann stützte sie. Als sie an ihm vorbeikamen, gaben sie mit einem Lidschlag zu erkennen, dass sie ihn gesehen hatten. Dahinter die Brüder, dann die Ex-Frauen mit den Kindern. Manuela Korn nickte ihm zu. Freund erkannte keine prominenten Gesichter.
Draußen empfing sie ein strahlend blauer Himmel. In den Kronen der Alleebäume, deren Laub sich zu lichten begann, hockten die Krähen und begleiteten den Zug mit ihren Schreien.
Der Sarg wurde zu einer Familiengruft gebracht, die wie ein kleiner griechischer Tempel mit zwei Engeln neben der Pforte aussah. Freund hielt Abstand, studierte die Namen und Daten auf benachbarten Gräbern. Er sah sich um, ob noch jemand die Zeremonie verfolgte. Zwei Reihen weiter stand ein Pensionist in grauem Mantel und Hut. Außer ihm entdeckte Freund niemanden. Nach ein paar Minuten ging der Mann weiter.
Hier war nichts zu erfahren. Freund spazierte durch die Allee zurück zum Hauptportal. Von den Bäumen segelten gelbe Blätter.
Das Muster
Gerade noch rechtzeitig kam Freund zurück ins Büro. In seiner Mailbox fand er den Obduktionsbericht von Fritz Billing. Die Gerichtsmediziner hatten nichts feststellen können. Billing schien eines natürlichen Todes gestorben zu sein. Die Ärzte merkten aber auch an, was Freund ohnehin wusste, dass es Substanzen gab, die einen Herzinfarkt herbeiführen konnten und nicht nachweisbar waren.
Gemeinsam mit Tognazzi
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