Wild und frei
könnte. Was den Wilden anbelangte …
Rowena versuchte, sich keine Sorgen um den dunkelhäutigen Gefangenen zu machen, als sie sich an ihrem Vater vorbei in den engen Flur drängte. Jetzt war nicht der Augenblick für Gefühlsseligkeit. Wenn es darum ginge, eine Wahl zu treffen, würde Dickon gerettet werden. Den Wilden müsste man dann trotz seines Wertes töten wie einen tollwütigen Hund.
Vom oberen Ende der Treppe sah sie den gelben Lichtschein der Fackel an den Wänden. Sie wartete, während ihr Vater, der beängstigend nach Atem rang, hinter ihr herkam. Er war zu alt für eine solche Feuerprobe, wie Rowena erkannte, der das Herz selbst bis zum Halse schlug. Seine Reaktionen waren zu langsam, und sein Urteilsvermögen war durch sein Alter bereits eingeschränkt. Sie durfte nicht zulassen, dass Sir Christopher es mit dem Wilden und dessen urtümlicher Kraft und Schnelligkeit aufnahm.
Sie allein hatte eine Chance gegen diesen Mann.
Indem sie eine Bitte um Vergebung vor sich hin murmelte, wandte Rowena sich um, stemmte eine Hand gegen die Brust ihres Vaters und schob ihn zurück in den Flur. Ehe der verblüffte alte Mann sich’s versah, hatte sie sich umgedreht und lief zu dem dunklen Treppenschacht. Dort hielt sie gerade so lange inne, um die Tür zuzuschlagen und sie hinter sich zu verriegeln.
“Rowena!” Sir Christopher trommelte hilflos gegen die schweren Eichenbretter. “Mach sofort diese Tür auf! Aufmachen, hörst du!”
Rowena stellte sich taub und eilte die Treppe hinunter, tiefer und immer tiefer, geradewegs der Gefahr entgegen.
Im grellen Licht der Fackel stand Thomas und stieß mit einer langen hölzernen Pike zwischen die Gitterstäbe. Der Wilde hatte sich in eine düstere Ecke zurückgezogen, gerade außer Reichweite. Mit einem muskulösen Arm hatte er Dickon an der Kehle gepackt, der andere hielt den unglückseligen Diener an der Taille fest.
“Bleibt zurück, Mistress”, warnte Thomas, als sie sich näherte. Aber Rowena hörte ihn kaum. Ihre Aufmerksamkeit war auf das Geschehen im Verlies gerichtet. Sie sah Dickons weit aufgerissene Augen im Feuerschein glitzern. Schreckliche Angst stand in seinem runden, sanften Gesicht geschrieben. Der Wilde hinter ihm war nur als ein schwarzer Schatten zu erkennen, aber sie wusste, dass er sie beobachtete.
“Schlüssel!” Seine Stimme drang aus der Dunkelheit, flehend und fordernd zugleich. Rowena spürte das Gewicht des Messingbundes an ihrer Taille. Einer der Schlüssel, alt und rostig, war das Gegenstück zu jenem, den Thomas benutzt hatte, um die Tür des Kerkers auf- und zuzuschließen. Aber sie hatte keinen Schlüssel, der zu den Fesseln an den Händen und Füßen des Gefangenen passte. Ihr wurde das Herz schwer, als sie begriff, dass es diesen Schlüssel womöglich nirgendwo gab, außer vielleicht an Bord des Schiffes, das ihn nach Falmouth gebracht hatte.
“Rowena!” Sir Christophers gedämpfte Stimme drang grollend durch die verschlossene Tür, als sie sich wie eine Schlafwandlerin in Richtung der Gitterstäbe bewegte. “Bist du von Sinnen? Lass mich ein!”
Rowena gab vor, nichts zu hören. Sie wusste, ihr Vater war verzweifelt vor Sorge, aber hier bahnte sich eine Tragödie an. Wenn sie nicht rasch und mutig handelte, würde jemand in diesem elenden Loch sterben.
Als sie sich näherte, hörte sie Dickon wimmern. Sein Kopf ragte aschfahl über den dunklen Arm des Wilden. Thomas stieß immer noch vergeblich mit seiner Pike nach dem Gefangenen. Rowena legte ihm die Hand auf den Arm. “Hör auf”, sagte sie mit leiser Stimme. “Du bedrohst ihn nur. Das nützt nichts.”
Er zögerte, und für einen Augenblick fürchtete Rowena, dass er widersprechen würde. Aber Thomas war ein Diener, und sie war die Herrin des Landsitzes. Schließlich zog er die Pike heraus und wich widerwillig zurück.
Am oberen Ende der Treppe hörte man Sir Christopher toben und heftig gegen die Tür hämmern. “Kümmere dich um die Tür, Thomas”, sagte Rowena. “Achte darauf, dass mein Vater draußen in Sicherheit bleibt. Pass auf, dass er sich nicht einmischt, oder du wirst mir dafür büßen.”
“Jawoll, Mistress”, murmelte Thomas voller Widerwillen. Er zweifelte nicht daran, dass er in jedem Fall dafür büßen würde.
Rowena spürte die Blicke des Wilden auf sich, als sie an der Kordel an ihrer Taille herumfingerte, um den Schlüsselbund abzunehmen. Ihre zitternden Finger fanden schließlich den ältesten und rostigsten von allen, und sie
Weitere Kostenlose Bücher