Wild und frei
steckte ihn in das Schloss.
Zuerst sperrte sich der rostige Mechanismus, aber dann ließ der Schlüssel sich doch herumdrehen, und die Tür sprang auf.
Rowena sah den Wilden jetzt deutlich vor sich. Groß und stattlich stand er in der hintersten Ecke des Kerkers. Sein schwarzes Haar hing ihm in das böse zugerichtete Gesicht. Schwarze Augen glühten im tanzenden Schein der Fackel. Er sieht aus wie der leibhaftige Teufel, dachte sie. Nur der Anblick von Dickons bleichem Gesicht und seiner hervortretenden Augen hielt sie davon ab, sich schnellstens in Sicherheit zu bringen und die Tür hinter sich zu verschließen.
“Halte durch, Dickon”, raunte sie ihm zu, indem sie den Schlüsselbund umklammerte. “Ich bin gekommen, um dich hier herauszuholen.”
Unerschrockene Worte. Aber Rowena spürte, wie ihr Mut sank, als sie den verzweifelten Blick des Wilden sah. Ihre Chancen, ihn lange genug hinzuhalten, um den verängstigten Diener zu befreien, standen ziemlich gut. Aber was würde der Wilde tun, sobald ihm klar wurde, dass keiner der Schlüssel zu seinen Fesseln passte.
Sie trat in den Kerker und spürte, wie Angst sie befiel. Hinter der verriegelten Tür war selbst ihr Vater ruhig geworden. Es war nichts zu hören außer dem Knistern des brennenden Pechs, Dickons mühsamem Atmen und dem Klopfen ihres Herzens.
Im Fackellicht schienen Dickons Augen hervorzuquellen. Der Wilde stand als ein großer schwarzer Schatten hinter ihm. Nur sein Arm und seine kräftige Faust waren an den Stellen deutlich zu sehen, wo das Licht auf sie fiel. Jetzt erkannte sie auch die Kette, sie war eng um den fülligen weißen Hals des Dieners gelegt. Ein einziger Ruck würde genügen, ihm das Genick zu brechen.
Rowena überwand ihre Angst. “Hab keine Furcht, Dickon”, sagte sie behutsam. “Ich lasse nicht zu, dass er dich verletzt. Siehst du, ich habe die Schlüssel mitgebracht. Das ist es, was er will.”
Dickon zuckte nur mit den Wimpern. Er atmete gurgelnd ein und aus. “Lass ihn los.” Rowena sprach langsam und deutlich mit dem Wilden und hielt den Schlüsselbund gerade außer Reichweite.
“Ich habe gesagt, lass ihn los!” Rowena legte eine Hand auf die zerschundenen Knöchel der mächtigen Faust, die die Kette festhielt. Die leichte Berührung durchfuhr sie wie ein Schock, ein eiskalter Schauder jagte durch ihre Adern. Sie spürte das Zucken seiner Hand und musste all ihre Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht zurückzuweichen.
“Schlüssel! Du öffnen!” Er stieß die Worte wütend hervor und schüttelte sein gefesseltes Handgelenk vor ihrem Gesicht. Dabei wurde die Kette enger um Dickons Genick gezogen. Der Diener röchelte vor Angst.
“Lass ihn los!”, befahl Rowena und untermalte ihre Worte mit entschlossenen Gesten. “Du lässt ihn los oder kein Schlüssel. Verstehen? Kein Schlüssel.”
“Ich … töte.” Die Kette schloss sich enger um Dickons Hals. “Töte ihn … töte dich.”
Rowenas Knie drohten unter ihr nachzugeben. Mit äußerster Mühe gelang es ihr, aufrecht zu stehen und mit Entschiedenheit zu sprechen. “Tu tötest, du stirbst!”, sagte sie. “Gleich hier, und zwar sofort.”
Thomas rückte mit der Fackel dichter an die Zelle heran, sodass das Licht dem Wilden direkt in die Augen schien. Die schwarzen Pupillen zogen sich eng zusammen. Dann lockerte sich allmählich die Kette am Hals des Dieners. Die Kettenglieder glitzerten im Fackelschein, und plötzlich war Dickon frei. Er stolperte vorwärts, immer noch halb gelähmt vor Angst.
“Geh weiter, Dickon”, sagte Rowena sanft. “Es ist alles in Ordnung. Thomas lässt dich hinaus.”
Dickon taumelte zur Zellentür. Rowena hörte die uralten Scharniere hinter sich quietschen, als Thomas die Tür öffnete. Dann schlossen sich die eisernen Gitterstäbe wieder. Sie war allein in der Zelle mit dem Wilden.
Meinem
Wilden, rief sie sich ins Gedächtnis. Sie war gekommen, um ihn ebenso wie den Pechvogel von Diener zu retten. Nun stand er vor ihr, elend und würdevoll zugleich, seine gefesselten Arme ausgestreckt, die Augen glitzernd im Fackelschein.
Wie lange würde sie ihn täuschen können? Und wo sollte das alles enden?
Rowena war dabei, es herauszufinden.
4. KAPITEL
Black Otter beobachtete die Frau, wie sie den schweren Schlüsselring ins Licht hob. Seltsam, sein eigenes Volk war seit Anbeginn der Zeit sehr gut ohne Schlösser und Schlüssel ausgekommen. Aber hier, in dieser fremden Welt, schienen Schlüssel alles zu beherrschen.
Ihm
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