Wild und frei
an.
“Du verstehst das nicht!” Ihr Vater sprach mit einer Dringlichkeit, die sie schaudern ließ. “Sobald der Wilde für sich selbst sprechen kann, sich vielleicht sogar taufen lässt, um den Schein zu wahren, sieht die Sache ganz anders aus. Aber zunächst einmal muss seine Anwesenheit geheim gehalten werden!”
“Und wenn einer der Diener, vielleicht Thomas oder Dickon, kein Stillschweigen bewahrt? Ihr wisst so gut wie ich, dass zu viel Trinken die Zunge eines Mannes löst!”
“Entweder sie halten den Mund oder sie verlieren ihre Stellung. Das habe ich ihnen bereits klargemacht. Und überhaupt, was wissen sie denn schon? Nur du und ich wissen, woher der Wilde kommt. Was die Diener anbelangt, so beherbergen wir hier einen armen, tobsüchtigen Irren, einen Zigeuner, den ich in Falmouth aufgesammelt habe.”
“Vater, bei diesem ganzen Unternehmen kann nichts Gutes herauskommen!” Rowena nahm das Tuch aus der Schale und wrang es mit einer heftigen Bewegung aus. “Seht Euch den armen Kerl doch an! Ihr habt Euch das alles gar nicht richtig überlegt, nicht wahr? Ihr hattet keine Ahnung, wie Ihr Euch um ihn kümmern solltet, wie Ihr Euch mit ihm verständigen wolltet, wie …”
“Das reicht! Ich brauche deine Vorhaltungen nicht!”, unterbrach Sir Christopher sie zornig. “Ich bin schließlich dein Vater und habe Anspruch auf ein gewisses Maß an Respekt.”
“Sicher habt Ihr das!” Rowena schluckte ihre Enttäuschung herunter. “Aber, bei Gott, dieses Geschöpf ist keiner von Euren Affen oder fremdartigen Vögeln. Ihr könnt ihn nicht einfach in einen Käfig stecken und …”
Ein heftiges Stöhnen des Wilden brachte sie zum Schweigen. Als sie schnell nach unten blickte, sah sie, dass er die Augen geschlossen hatte, aber den Kopf auf dem Kissen hin und her bewegte. Dabei zuckte er am ganzen Körper.
“Ganz ruhig …” Sie wischte sein glühendes Gesicht mit dem feuchten Tuch ab. “Ganz ruhig, es ist alles gut. Ruh dich aus …”
Allmählich entspannte er sich unter ihrer Berührung. Es war nur noch ein langes, tiefes Ausatmen zu hören, dann sank er zurück in die dunkle Leere.
Die Stille legte sich lastend über das kleine Zimmer, nur unterbrochen durch den Schrei eines Sturmvogels und das Rauschen des Meeres hinter dem hohen Fenster. Schließlich seufzte Sir Christopher auf, es klang erschöpft und resigniert. “Ich bin ein selbstsüchtiger alter Mann gewesen”, sagte er. “Und es war nicht richtig von mir, dich hier in diesem einsamen Haus zu behalten, ohne gleichaltrige Freunde.”
Rowena sah zu ihm auf, überrascht von dieser plötzlichen Wendung des Gespräches.
“Dein gutes Herz hat dich schon immer dazu bewogen, dich um jeden verwundeten Vogel, Fuchs und Hasen zu kümmern, der sich hierher verlaufen hat”, fuhr er in ernstem Ton fort. “Aber du hast ja schon selbst darauf hingewiesen, dass dieses Geschöpf, das hier vor uns liegt, kein Tier des Feldes ist. Er könnte dir viel mehr Schaden zufügen, als eine ganze Menagerie wilder Tiere.”
“Vater …”
“Nein, lass mich fortfahren. Du hast dich mir in dieser Sache bei jeder Gelegenheit widersetzt, Rowena. Aber wegen deiner eigenen Sicherheit und meines Seelenfriedens muss ich diesmal auf deinem Gehorsam bestehen. Du wirst dich künftig von dieser Kammer fernhalten und die Pflege des Wilden ausschließlich mir überlassen.”
Rowena sprang auf, und leidenschaftlicher Protest regte sich in ihr. Der Wilde vertraute ihr – zumindest mehr als irgendjemandem sonst in diesem Haus. Er
brauchte
sie.
Aber Klugheit und Erfahrung ließen sie schweigen. Sie bemerkte die Entschlossenheit in der Stimme ihres Vaters. Es gab Zeiten, da man ihrem Vater keinen Trotz bieten durfte, und so war es jetzt.
“Ihr macht Euch unnötige Sorgen, Vater”, wandte sie ein und hoffte immer noch, ihn überzeugen zu können. “Der Wilde ist viel zu geschwächt, um mir etwas antun zu können, und wenn Thomas mich beschützt …”
“Mein liebes Kind.” Sir Christopher legte sanft seine Hand auf ihren Arm – eine Geste der Zuneigung, die bei ihm selten vorkam. “Es ist nicht so sehr die Sicherheit deines Körpers, die mich beunruhigt, als vielmehr die Sicherheit deines Herzens.”
“Bei allem Respekt, Vater, ihr geht zu weit!”
“Tue ich das?” Die Enttäuschung in seiner Stimme traf sie härter als jeder Schlag. “Allein der Anschein der Sünde ist gefährlich. Selbst wenn nur von einem Skandal getuschelt wird, könnte das immer an dir
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