Wild und frei
Schlafstelle herrichten kann. Tu dein Bestes, damit er begreift, dass er hier bleiben soll. Wenn er etwas braucht, sag mir – niemand sonst – sofort Bescheid. Kannst du das für mich tun?”
“Ja …” Will runzelte nachdenklich die Stirn. “Das kann ich, Mistress. Und wenn er damit einverstanden ist, könnte ich ihm auch ein paar Worte richtiges Englisch beibringen.”
“Das wäre wunderbar, Will. Und weißt du was? Ich zahle dir einen Penny für jedes Wort, das er von dir lernt! Du bekommst dein Geld Ende der Woche!”
“Einen Penny für jedes Wort!” Die Augen des Jungen leuchteten bei dem Gedanken an das Vermögen, das er aufhäufen würde. “Macht Euch keine Gedanken, Mistress. Wenn der Gentleman bereit ist zu lernen, werde ich ihn in kürzester Zeit dazu bringen, dass er richtig spricht!”
“Davon bin ich überzeugt.” Rowena schaute den Wilden an, der sie unverwandt ansah. Hatte er verstanden, was sie gerade für ihn abgemacht hatte? Würde er hier bleiben, wenn sie zurück zum Haus ging? “Ich muss jetzt gehen”, sagte sie. “Ich will nach meinem Vater sehen. Aber ich komme bald zurück – verstehst du? Bald.” Jetzt hatte sie es eilig. Sie war viel zu lange fort gewesen. Sir Christopher brauchte sie.
Der Wilde sah sie ruhig an, richtete dann aber seine Aufmerksamkeit wieder auf Blackamoor. Ja, hier wird er sicher sein, beruhigte sich Rowena, als sie sich zum Gehen umwandte. Und ihr Vater würde erleichtert sein, wenn er erfuhr, dass seine Investition in guten Händen war.
Sie hatte fast die Stalltür erreicht, als der Junge noch einmal nach ihr rief.
“Mistress!”
“Was gibt es?” Sie sah über die Schulter zurück.
“Ihr habt etwas vergessen. Wie ist denn der Name des Gentleman?”
Sie suchte nach einer glaubwürdigen Antwort. “Sein Name ist – John”, erwiderte sie, “John … Savage.”
Als sie den Stall hinter sich gelassen hatte, lief Rowena schnell zum Haus. In den letzten Stunden mit dem Wilden hatte sie die Gedanken an den Zustand ihres Vaters zurückgedrängt und sich damit getröstet, dass Sir Christopher in treuen Händen war. Jetzt jedoch, als Sorgen und Schuldgefühle sie übermannten, schoss ihr die Schamröte ins Gesicht. Sie hatte ihre sorgfältige Erziehung, all ihre Grundsätze verraten und jeden gesunden Menschenverstand vermissen lassen, als sie sich einem Mann an den Hals warf, den sie kaum kannte.
Es spielte keine Rolle, dass er sie entführt und mit vorgehaltenem Messer nach draußen geschleppt hatte. Sie war es gewesen, die dieses peinliche Zusammentreffen herbeigeführt hatte, und falls ihrem Vater während ihrer Abwesenheit etwas zugestoßen war, würde sie sich das nie verzeihen.
An der hinteren Veranda machte sie Halt, um den Schmutz und das Stroh von ihren ruinierten Hausschuhen abzukratzen. Dann eilte sie in die Küche. Wie üblich waren die Dienstboten damit beschäftigt, das Mittagessen zuzubereiten, aber die alltägliche Geschäftigkeit war doch seltsam gedämpft, als ob Sir Christophers Krankheit wie eine schwere Bürde auf dem ganzen Haus lastete. Die Anspannung war fast spürbar. Klopfenden Herzens wappnete sich Rowena für die schlimmsten Neuigkeiten.
Bessie, die Köchin, sah von dem Kochtopf auf, in dem das Fleisch schmorte. Als sie Rowena erblickte, legte sich ein Ausdruck des Missfallens auf ihr gutmütiges Gesicht.
“Gütiger Himmel, Mistress, seid wohl ins Moor gefallen? Schaut Euch bloß an! Wo seid Ihr nur die ganze Zeit geblieben?”
“Wie ist es meinem Vater ergangen?”, fragte Rowena, ohne auf die Einwände der guten Frau einzugehen. “Das ist doch nicht der Wagen des Doktors?”
“Nee, ist nicht der vom Doktor.” Bessie schaute noch mürrischer drein. “Aber dem Master geht’s nicht schlechter. Hat ja sogar ein bisschen Brühe getrunken. Geht am besten zu ihm.”
“Danke, Bessie.” Schwindlig vor Erleichterung, stürmte Rowena aus der Küche, überprüfte mit einem schnellen Blick, ob die Halle leer war, raffte ihre schmutzverkrusteten Röcke und eilte die Treppe hinauf.
Im Flur war es kühl und dämmrig. Als sie auf dem Treppenabsatz ankam, vernahm sie gedämpfte Stimmen aus der verschlossenen Kammer ihres Vaters. Es hörte sich nach einem erbitterten Streitgespräch an. Vorsichtig lauschend konnte sie die Stimmen eines Mannes und einer Frau erkennen, dazwischen die Stentorstimme ihres Vaters. Wenn Sir Christopher gesund genug war, um so laut zu sprechen, waren seine Aussichten auf Genesung vielleicht
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