Wild und frei
…”
“Aber, aber, Edward!”, erklärte eine kehlige weibliche Stimme. “In was für Schwierigkeiten steckt Ihr denn jetzt schon wieder?”
Erschrocken sah Rowena an ihm vorbei zur Tür. Die Frau, die dort in der Türöffnung stand, schien in Rowenas Alter zu sein, aber damit endeten auch die Gemeinsamkeiten. Sie war ein hinreißendes Geschöpf, mit einer Figur wie ein Püppchen, das honigfarbene Haar nach der neuesten Mode in kleine Löckchen gelegt. Ihre geschickt betonten blauen Augen erinnerten Rowena trotz ihrer Schönheit an zwei Teiche im Winter, gefroren zu Eis. In ihrem Blick lag keine Spur von Sanftmut oder Wärme.
“Aha, Edward, ich nehme an,
dies
ist die charmante Nichte, von der Ihr so oft gesprochen habt.” Ihr Lachen war schrill und humorlos. “Kann es denn sein, dass solche Kleidung jetzt in Cornwall Mode ist? Wenn ja, dann bin ich viel zu fein herausgeputzt. Vielleicht sollte ich nach draußen gehen und den Stall säubern!”
Rowena hatte die Frau sprachlos angestarrt, aber das Wort
Stall
rüttelte sie auf. “Wir haben Dienstboten für solche Arbeiten”, sagte sie, wobei sie sich schrecklich unbeholfen fühlte. Was war los mit ihr? Zumindest hätte sie sich eine geistreiche Antwort einfallen lassen können.
Bosley trat vor und holte zu einer schwungvollen Handbewegung voller spöttischer Höflichkeit aus. “Rowena, darf ich Euch meine Halbschwester Sibyl vorstellen? Mit der Zeit werdet Ihr sie sicher genauso lieben wie ich.”
“Ich habe mir erlaubt, mir selbst meine Kammer zu suchen”, fuhr Sibyl fort. “Einen recht trostlosen Raum, wenn Ihr mich fragt, aber ich habe ohnehin die Absicht, nur während der Saison hier zu bleiben. Die Sommer in London sind grässlich. Die Hitze! Die Gerüche!”
“Sibyl ist eine Frau von äußerst empfindlichem Naturell”, fügte Bosley hinzu. “Statt sie den Strapazen Londons auszusetzen, habe ich mir erlaubt, sie hierher einzuladen.”
Sibyl spitzte ihren kleinen herzförmigen Mund. “Ich brauche saubere Leinentücher für mein Bett”, sagte sie, “und auch saubere Handtücher. Ich hätte selbst die Anweisungen geben können, aber es scheint hier nur wenige Dienstboten zu geben …” Ihre nörglerische Stimme verstummte.
Rowena seufzte. “Ich sorge dafür, dass Hattie sich bis heute Abend um das Leinen kümmert. Ich kann Euch wohl kaum eine Bleibe für die Nacht verweigern, aber dass Ihr die ganze Saison oder selbst eine Woche hier bleibt, kann nicht sein. Der Zustand meines Vaters erlaubt es nicht, Gäste zu empfangen, und ganz offen gesprochen, ich will es auch nicht. Morgen nach dem Frühstück werdet Ihr Euch auf den Weg machen! Und zwar alle beide!”
“Aber liebste Rowena!” Bosleys Stimme triefte vor Pathos. “Wir wissen nicht, wohin, und wir haben so gut wie kein Geld! Was soll aus uns werden, wenn Ihr uns hinauswerft?”
Rowena betrachtete Sibyls burgunderfarbenes Kleid aus Seidentaft ebenso eingehend wie den Spitzeneinsatz über dem Mieder, den Saphirring an ihrer Hand und die Perlenkette, die beinahe bis zu ihrer zierlichen Taille reichte. Waren das Geschenke von einem reichen Liebhaber – einem Liebhaber, der sie nun verlassen hatte? Hatte deshalb die wunderschöne Sibyl ihr Glück bei einem Mann wie Edward Bosley gesucht?
Rowena sah Bosley an, dann wieder Sybil.
“Ihr scheint noch einige Dinge zu besitzen, die Ihr zu Geld machen könnt – das wird Euch fürs Erste helfen, zumindest so lange, bis einer von Euch Arbeit findet.”
Als das Wort Arbeit fiel, wurde Bosleys aufgedunsenes Gesicht merklich blasser. “Aber ich könnte doch hier arbeiten, Rowena! Da Euer Vater krank darniederliegt, braucht Ihr einen Mann, der das Gut verwaltet – Entscheidungen trifft, sich um das Land kümmert, um die Dienstboten, die Buchführung …”
“Damit komme ich sehr wohl allein zurecht”, entgegnete Rowena.
“Das sehe ich.” Bosleys Blick schweifte über Rowenas zerzaustes Haar und ihr unordentliches Kleid und ließ ihr einen kalten Schauder über den Rücken gleiten.
“So, wie Ihr ausseht, ist es ganz klar, dass Ihr jemand braucht, der sich um Euch kümmert und eine richtige Lady aus Euch macht. Und da Euer Vater das Bett hüten muss, obliegt es mir als Eurem einzigen verbliebenen männlichen Verwandten, sich …”
“Nein!” Rowena warf die Haarbürste mit der Kraft der Verzweiflung. Sie prallte an seiner Wange ab und ließ einen tiefroten Fleck zurück. Er berührte die Stelle mit dem Zeigefinger und fuhr
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