Wild und frei
hinauswagen”, sagte ihm ein grauhaariger alter Mann. “Aber wenn Ihr Lissabon oder Malta sehen wollt, oder sogar Alexandria, dann wird sich gewiss überall an Deck ein Platz für einen so kräftigen Burschen finden, wie Ihr es seid. Und wer weiß, im Laufe der Jahre, wohin der Wind Euch weht?”
Black Otter dachte über die Aussicht nach, Jahre auf See zu verbringen, dachte an das schwankende Deck, an Krankheit und Elend, an die Ungewissheit, ob er jemals seine Heimat erreichen würde, und seine Miene verfinsterte sich. “Ich wünschte, ich könnte gleich in die Neue Welt”, beharrte er, “und zu einem Ort, einem Fluss, den ich sofort erkennen würde.”
Der Alte kniff seine wässrigen Augen zusammen. “Wenn das so ist, dann wird Euch keine andere Wahl bleiben, als ein Schiff zu heuern. Aber solch ein großes Unternehmen kostet mehr Gold und Silber, als Leute wie Ihr und ich jemals in unserem Leben zu Gesicht bekommen.”
Er hätte es wissen müssen: Wieder lief alles darauf hinaus, dass man Geld brauchte. Er hatte dem alten Mann gedankt und war niedergeschlagen seiner Wege gegangen.
Als er nun die drei Gestalten im Haus verschwinden sah, überlegte Black Otter abermals die Möglichkeit, wegzulaufen und zur See zu gehen. Jetzt, da
Chingwe
Rowena in seinen Armen erwischt hatte, wäre jeder Tag voller Gefahr. Trotz Rowenas Protest war ihm klar, dass der Mann große Macht hatte, ihm zu schaden – ihn töten zu lassen oder einzusperren, sodass er seine Kinder niemals wiedersehen würde.
Es würde ihm ein Leichtes sein, sich nach Falmouth davonzumachen und auf einem Schiff anzuheuern. Black Otter hatte bereits das Für und Wider abgewogen, auf diese Weise in seine Heimat zu gelangen, aber er fand die Aussichten zu düster, um sie ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie das Leben der Männer aussah, die an Bord eines Schiffes dienten – die Peitschenhiebe, das verdorbene Essen, die zermürbende Plackerei, die Krankheiten – er wollte nichts damit zu tun haben. Jetzt jedoch befand er sich in Gefahr, und die See war der einzige Fluchtweg, der ihm offen stand.
Letzte Nacht hatte er von seinen Kindern geträumt. Diesmal sah er sie ganz deutlich. Sie standen am nebelverhangenen Ufer, abgemagert und zerlumpt, ihre Augen rot vom Weinen. Sie streckten ihre Ärmchen aus, und er mühte sich ab, sie durch den Nebel zu erreichen. Schließlich gelang es ihm, ihre Fingerspitzen zu berühren. Einen Herzschlag lang spürte er einen tiefen Frieden in sich, endlich war er daheim. Dann jedoch wurden die Nebelschwaden plötzlich wieder dichter. Swift Arrow und Singing Bird waren verschwunden. Er hatte sie wieder verloren.
Gequält und voller Kummer war er aufgewacht.
Irgendwo jenseits des Ozeans warteten seine Kinder und sein Volk auf ihn. Er sehnte sich schmerzlich danach, zu ihnen zu gelangen, ganz gleich, wie – aus einem Baumstamm ein Kanu zu schlagen und über die endlose Weite zu paddeln, zu schwimmen wie ein Fisch oder wie ein Vogel zu fliegen, all seinen Mut zusammennehmend und es darauf ankommen lassend, dass ein Schiff, irgendein Schiff, ihm dazu verhelfen würde, eines Tages wieder an der geliebten Küste an Land zu gehen, wo der
Mochijirickhicken
, der große Strom ins Meer mündete.
Seine innere Stimme sagte ihm, dass er diesen Ort verlassen musste. Was hielt ihn denn zurück? Furcht? Ganz sicher nicht. Wie oft hatte er als
Sakima
zuerst einen unbekannten Fluss erkundet oder einen neuen Jagdgrund in Besitz genommen? Wie oft hatte er den ersten Schlag gegen einen Feind geführt oder den ersten Pfeil auf einen angreifenden Bären abgeschossen?
Er hatte seine Tapferkeit unzählige Male unter Beweis gestellt. Warum zögerte er dann wider alle Vernunft so lange damit, einfach fortzugehen?
Black Otters Blick verweilte auf dem großen Haus, besonders auf dem einen hohen Fenster, von dem er wusste, dass es zu Rowenas Kammer gehörte. Selbst jetzt noch machte die Erinnerung an ihren leidenden Gesichtsausdruck sein Herz schwer. Allein der Gedanke, sie auf Gedeih und Verderb ihren raffgierigen Hausgästen auszuliefern …
Er bebte vor unterdrückter Wut. Es gab so wenig, das er für sie tun konnte. In diesem Land besaß er weder Macht noch Land, weder Einfluss noch Geld. Außer seiner Körperkraft hatte er nichts, womit er sie schützen konnte. Aber sein Herz sagte ihm, dass Rowena ihn brauchte – und solange sie in Bedrängnis war, wusste er, dass er sie nicht im Stich lassen
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