Wild und frei
Armen hochgehoben wurde – von Armen, die seinen zerschundenen Körper mit unendlicher Behutsamkeit wiegten. Er spürte Bewegung, den Rhythmus langer Schritte, als er getragen wurde, mit der Leichtigkeit von Schwalbenflügeln, über eine weite und geheimnisvolle Strecke. Seltsamerweise hatte er keine Angst.
Er wollte die Augen öffnen, aber es ging nicht. Vielleicht war das auch besser so, denn Black Otter wusste, er lag in den Armen von Mesingw, dem großen und gütigen Waldgott mit dem Körper eines gewaltigen Kriegers und dem platten, vernarbten Gesicht eines uralten Weisen. In ihm waren Stärke und Weisheit vereint. Ein Glücksgefühl durchströmte den Jungen, als er fühlte, wie seine Verletzungen anfingen zu heilen. Es war ein Gefühl von Licht, reiner Liebe und Vertrauen; und als er so dalag mit geschlossenen Augen, sprach die Stimme Mesingws zu ihm wie ein brausender Wind.
“
Hab keine Angst, mein Sohn … Du wirst leben und ein großer Sakima bei deinem Volk werden … Du wirst sie führen mit der Stärke deiner Jugend und mit der Weisheit deines Alters, und die Prüfungen, die dir jetzt auferlegt werden, sollen dein Volk retten in den Stürmen, die euch bevorstehen …”
Aber wie? Black Otter wusste, er hatte diese Frage nicht ausgesprochen. Zeig mir den Weg.
“
Das kann ich nicht tun”, seufzte Mesingw. “Du selbst musst deinen Weg finden und von denen lernen, die du unterwegs triffst. Und immer musst du Ausschau halten nach der Fremden aus einem weit entfernten Land, nach ihr, die den Weg gemeinsam mit dir gehen wird …” Er verstummte.
“
Warte!”, rief der Junge. “Erzähl mir mehr darüber! Ich muss noch so viel lernen!”
Aber der große Waldgott war verschwunden, und Black Otter blieb allein auf einem weichen Bett aus Moos und Laub zurück.
Black Otter schlug die Augen auf, und um ihn herum war tiefste Finsternis. Eine Weile lag er still, noch halb träumend von Mesingws Armen und Stimme. Dann schüttelte er den Traum ab und wachte auf. Er fühlte die kalten, schweren eisernen Fesseln, die seine Handgelenke und Fußknöchel wund scheuerten, hörte das grässliche Scheppern der wuchtigen Ketten, und die Erinnerung kam zurück.
Der Kreis hatte sich geschlossen, wieder war er in dem dunklen Loch, in das die drei Raufbolde ihn geworfen hatten, nachdem Rowena mit dem Verbinden seiner Wunde fertig war. Und dieses Mal, das wusste er genau, würde es kein Entkommen geben. Er war nun der Gefangene eines Mannes, der ihn niemals lebendig hier herauskommen ließe.
Einen Atemzug lang schloss er die Augen, versuchte krampfhaft, wieder in den Traum einzutauchen und sich die sanfte, friedvolle Stimme von Mesingw ins Gedächtnis zu rufen.
… Suche nach einer Fremden aus einem fernen Land, sie wird den Weg mit dir zusammen gehen …
Aber die Stimme war sofort verklungen, als er die Augen öffnete und in der Dunkelheit um sich blickte. Hatte er die Worte wirklich gehört oder sich nur im Gewirr seiner Gedanken verfangen? Hier, an diesem elenden Ort, konnte ihn auch Mesingw nicht retten. Und die Fremde, die er auserwählt hatte, um den Weg an seiner Seite zu gehen, war genauso eine Gefangene wie er selbst.
Er bewegte seine linke Schulter und fühlte einen ziehenden Schmerz, wo Rowena seine klaffende Wunde mit Nadelstichen zusammengenäht hatte. Währenddessen war er immer wieder ohnmächtig geworden, aber er konnte sich an den Anblick ihrer schmalen weißen Hände erinnern, als sie mit der Nadel arbeitete. Und er hatte immer noch ihr ernstes Gesicht vor Augen, das ihn so voller Liebe und Furcht ansah, dass es ihm ins Herz schnitt.
Sie in den Armen des Scheusals zu sehen, das er
Chingwe
nannte, hatte ihm mehr Schmerzen bereitet, als es eine Wunde in seinem Fleisch je konnte. Es hatte nicht viel gefehlt, und er hätte laut aufgeschrien, als der Kerl sie küsste und begrapschte.
Von ihrer Unterhaltung hatte Black Otter genug verstanden, um zu wissen, dass sie sich geopfert hatte, um ihn zu retten, und dass Bosley versprochen hatte, ihn nach der Hochzeit freizulassen. Aber er wusste auch, ein solches Versprechen war wertlos. Sobald Rowena seine Frau wäre, würde
Chingwe
seinen Gefangenen still und heimlich töten lassen. Er würde Lenapehoken und seine Kinder nie wiedersehen.
Black Otter lag ganz still da, um seine Kräfte zu schonen, und kämpfte gegen Furcht und Verzweiflung mit der einzigen Waffe, die er noch besaß – Wut. Zwei Monde lang hatte er sich damit abgegeben, die Sprache und
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