Wild und frei
stellen. Aber warum war das Ziel so groß und in so geringer Entfernung aufgestellt? In Lenapehoken wäre dies ein Wettkampf für kleine Jungen, nicht für Männer!
Der Bogen lag gut in der Hand, die Sehne war ausreichend gespannt. Zwar war er weder so stabil noch so fein gearbeitet wie die Bögen, die sein Volk herstellte, aber die Pfeile waren wirklich erstaunlich, die messerscharfen Pfeilspitzen aus Stahl schienen den von den Lenape aus Feuerstein gehauenen Spitzen bei Weitem überlegen zu sein. Black Otter konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich auszumalen, wie es wäre, wenn sein Volk solche Pfeile hätte und dazu Pferde, um sie überall hin zu tragen, die ungeahnten Möglichkeiten …
Aber nein – er zwang seine Gedanken in die Gegenwart zurück. Es wäre unklug, die Lebensgewohnheiten seines Volkes zu schnell zu verändern. Wer konnte schon wissen, ob ein Wandel, wenn er auch mit den besten Absichten vorgenommen wurde, nicht schließlich ins Unheil führen würde.
Black Otter wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Bogen zu. Er hatte keine Zweifel, dass er stark genug war, die Stahlspitze tief in das hölzerne Ziel eindringen zu lassen – oder, wenn nötig, in die Brust eines Mannes. Es wäre eine nützliche Waffe, wenn es ihm gelänge, sie zu behalten.
Er war schon seit Langem entschlossen, die Feier für seine Flucht zu nutzen. Unglücklicherweise war er jedoch seit seiner Freilassung aus dem Kerker heute Morgen ständig von Weißen umringt gewesen. Ihr ranziger Geruch, die auf ihn zeigenden Finger, das Geplapper und Anglotzen hatten eine Wut in ihm ausgelöst, die schon fast an Panik grenzte. Allein das Wissen, ein Lenape-Krieger zu sein, von dem erwartet wurde, dass er alles ertragen konnte, hielt ihn davon ab, sie beiseite zu schieben und in das friedliche, stille Moor hinauszulaufen.
Bosleys drei hässliche Wachhunde waren auch da, der stämmigste hatte sein gebrochenes Handgelenk immer noch geschient und verbunden. Black Otter spürte ihre Blicke auf sich, als er mit dem Bogen herumspielte, das Gleichmaß zwischen Starrheit und Biegsamkeit überprüfte, von dem seine Wurfleistung abhing. Bosley beobachtete ihn ebenfalls, seine Dachsaugen funkelnd vor kaum verhohlener Angst. Ja, der Mann war kein Dummkopf. Er wusste Bescheid.
Es wäre ein Leichtes, sich einfach umzudrehen, den todbringenden Pfeil in Bosleys Brust zu schicken und in dem darauf folgenden Handgemenge zu entfliehen. Black Otter wusste zwar, dass er kaum eine Chance hatte. Aber wie immer es auch ausginge, zumindest wäre Rowena dann in Sicherheit und frei.
Er erspähte sie am Rand der Menge, wie ein Geist eingehüllt in den Schleier, den sie in der Öffentlichkeit als Zeichen der Trauer um ihren Vater trug. Ihr Anblick, so allein und verlassen und genau wie er voller Unbehagen inmitten der lärmenden Menschenmenge, erfüllte sein Herz plötzlich mit Sehnsucht. Wenn dies hier Lenapehoken wäre und nicht England, würde er sie zu seiner Frau machen. Sie würde seine Hütte mit ihm teilen, sein Lager und sein Leben, während er sie beschützte und das glückliche Lachen ihrer Kinder sie mit Freude erfüllte – Kinder, die so schön, tapfer und klug wie ihre Mutter sein würden.
Der Traum fesselte ihn einen Augenblick lang – er sah sich auf den Fellen liegend am brennenden Feuer mit Rowena in seinen Armen, ihr nackter Körper an seinem, wie seine Liebe sie erfüllte, sie wärmte …
Aber nein – er riss sich von den verführerischen Bildern los. Sie waren in England, nicht in Lenapehoken, und was Rowena anbelangte, so war er nichts als eine Last und eine Gefahr für sie. Das Einzige, was in seiner Macht stand, war, den Tod des Mannes herbeizuführen, der aus ihrem Leben einen einzigen Albtraum gemacht hatte.
Würde die Flucht gelingen? Vielleicht. Es war gewiss, dass sie Jagd auf ihn machen würden, aber inzwischen gab es keinen Pfad, Bach, Wald und kein Tal in der ganzen Umgebung, das er nicht kannte. Und er wusste von der verborgenen Höhle am Meer, Rowenas Höhle, wo er sich verstecken könnte, bis sich der Aufruhr so weit gelegt hatte, dass er sich bei Nacht auf den Weg zum Hafen machen und auf einem auslaufenden Schiff anheuern konnte.
“Master Savage, jetzt seid Ihr an der Reihe.” Black Otter fühlte, wie ihn sein Hintermann vorsichtig anstieß, und bemerkte erst jetzt, dass um ihn herum Stillschweigen herrschte. Alle blickten erwartungsvoll auf ihn.
Er nahm sich Zeit, wählte einen Pfeil aus, passte die Sehne in
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