Wild und frei
die Kerbe ein und hielt inne. Sollte er Bosley sofort töten oder den Pfeil zuckend mitten ins Ziel schießen? Einen solchen Wettkampf zu gewinnen bedeutete ihm nichts, und was den Preis anbelangte … Ein bitteres Lächeln umspielte für einen Augenblick seinen schmalen Mund. Er würde Rowena niemals dadurch bloßstellen, dass er sie in aller Öffentlichkeit küsste. Warum also einen kostbaren Pfeil für einen Kuss verschwenden, wenn er jetzt die Gelegenheit zum Handeln hatte und mit einem kühnen Schuss ihre Freiheit erringen konnte?
Äußerlich schien er ruhig, aber sein Puls dröhnte ihm in den Ohren, als er sich umsah, um sich zu vergewissern, wo Bosley stand, und dann den Bogen auf Schulterhöhe hob. Wenn sich niemand bewegte, war die Bahn frei. Zuerst wollte er auf die Holzscheibe zielen, sich dann mit einer blitzschnellen Bewegung umdrehen, den todbringenden Pfeil auf Bosley abschießen und entfliehen.
Ganz am Rand seines Blickfeldes sah er Rowena in der Zuschauermenge. Ihr Trauerschleier war zur Seite geweht und gab den Blick auf ihre großen Augen in dem blassen, beunruhigten Gesicht frei. Hatte sie erraten, was er tun wollte? Wie auch immer, in ein paar Augenblicken würde alles vorbei sein. Er wäre verschwunden, und sie wäre frei. Es war der letzte und einzige Dienst, den er ihr erweisen konnte.
Ich liebe dich
, flüsterte Black Otter stumm vor sich hin. Dann richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf die Aufgabe.
Noch einmal schaute er nach hinten, um sicherzugehen, dass Bosley immer noch dort stand, ohne Deckung und ahnungslos. Dann, ganz langsam, innerlich bebend vor Erregung, spannte er die Bogensehne.
Jetzt!
schrie eine innere Stimme.
Tu’s jetzt!
Er fuhr herum und richtete den Bogen auf Bosley, dann jedoch, ehe er den Pfeil abschießen konnte, gellte der grässlichste Schrei, den Black Otter je in seinem Leben gehört hatte, durch die Luft.
Der Schrei war so schrill wie der eines Vogels, die Stimme kaum als die einer Frau erkennbar. Als Black Otter, genau wie alle anderen, hastig in die Richtung sah, aus der das Kreischen gekommen war, stellte er entsetzt fest, dass es Rowena war, die geschrien hatte. Er konnte nur erkennen, dass sie zu Boden gestürzt war und Arme und Beine in krampfartigen Zuckungen um sich warf. Ihr Gesicht war verzerrt, und sie stierte vor sich hin.
Die heraneilenden Menschen versperrten jetzt den Blick auf Bosley, aber Black Otter hatte ihn vergessen. Er brauchte all seine Willenskraft, um nicht zu Rowena zu laufen und sie in seine Arme zu schließen. Andere können ihr helfen und werden es auch tun, ermahnte er sich streng. Wenn er sie hier vor aller Augen berührte, würde er nur Schande über sie bringen und sie lächerlich machen.
Die Menge drängte sich näher heran, während Rowenas Körper unaufhörlich zuckte und sich in Krämpfen wand. Black Otter wusste, dass dies die Merkmale der Fallsucht waren, die manchmal auch bei seinem Volk auftrat. Aber wie konnte das sein? Er hatte bei Rowena niemals auch nur das geringste Anzeichen dieses Gebrechens bemerkt, und sie hatte ihm gegenüber auch nichts davon gesagt. Der Anblick, den sie jetzt bot, erschien ihm irgendwie unwirklich, wie Bilder aus einem Albtraum.
“
Lapich knewel!”
Mit schmerzverzerrter Stimme schrie sie die Worte – die für ihn zunächst keinen Sinn ergaben, bis ihm plötzlich alles klar wurde – sie hatte ihm etwas in der Lenape-Sprache zugerufen.
Schlagartig wusste er, was hier vor sich ging. Dieses ungestüme und verwegene Schauspiel war Rowenas Geschenk für ihn – eine List, die genau das Durcheinander schuf, das er für seine Flucht brauchte. In einer Sprache, die nur sie beide beherrschten, gab sie ihm zu verstehen, was er wissen musste.
Sie verabschiedete sich von ihm.
Ein hastiger Blick in die Runde, und er hatte sich vergewissert, dass alle Augen auf Rowena gerichtet waren. Black Otter hielt noch kurz inne, während sein Herz schier überquellen wollte vor Liebe und Dankbarkeit. “
Lapich knewel”
, flüsterte er. Lebe wohl, meine Retterin, mein Herz, mein Leben.
Mit langen, ruhigen Schritten, um nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, bewegte er sich auf die Hausecke zu und war schnell außer Sicht. Bis auf einen älteren Mann, der aus der Richtung des Lokusses hinter dem Stall herbeieilte, begegnete er niemand. Abgelenkt durch die Geräusche, die vom Wettkampfplatz herüberdrangen, humpelte der gichtige alte Kerl an Black Otter vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu
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