Wild wie das Meer (German Edition)
erschrak und unterdrückte dann das Lächeln, das um seine Mundwinkel zuckte. „Du hast recht“, räumte er ein und war über sich selbst überrascht.
„Du gibst zu, dass dies bislang ein einseitiges Abkommen war?“
„Ja, das tue ich.“
Ihre angespannten Züge glätteten sich, und das Leuchten kehrte in ihre großen Augen zurück. „Was werden Sie also unternehmen, Captain?“, neckte sie ihn.
Sein pochendes Herz erwies sich einmal mehr als verräterischer Gefährte. „Sobald wir in London sind, werde ich dir die Geschäfte zeigen, den Jahrmarkt, das Theater, vielleicht sogar die Pferderennbahn, um diese große Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen“, sprach er und erwiderte ihr herausforderndes Lächeln.
Dann zögerte er. „Bist du sicher, dass du nicht doch mit mir zu Abend essen möchtest?“
Sie schwieg. Dann spitzte sie nachdenklich die Lippen und nickte. „Gib mir ein paar Minuten zum Anziehen.“
Er verließ das Gemach, erleichtert.
London. Virginia hatte Gemälde und Stiche mit dem Motiv der Hauptstadt gesehen. Ihr Vater hatte ihr Geschichten aus seiner Kindheit erzählt. Immer schon hatte sie davon geträumt, eines Tages diese Metropole zu besuchen. Noch vor Anbruch der Dämmerung waren sie von Wideacre aufgebrochen. Jetzt saß Virginia wie gebannt am Fenster der Kutsche und nahm aufgeregt die vorbeiziehenden Straßenzüge in sich auf, als die Kalesche in Richtung Greenwich fuhr, wo Devlin ein Haus am Fluss besaß. Noch nie hatte sie so viele edle Karossen und Fuhrwerke auf einmal gesehen, so viele gut gekleidete Gentlemen und exklusiv gewandete Damen. Die Straße, durch die sie gerade fuhren, säumten teure Geschäfte und feine Hotels, gelegentlich unterbrochen von einem Schauspielhaus oder einem gut gepflegten Park. Wenig später fuhren sie an stattlichen Villen vorbei, die allesamt perfekt geschnittene Rasenflächen, edle Rosenstöcke, Steinstatuen und sogar Springbrunnen aufwiesen. Mit einem Lächeln schüttelte sie den Kopf. „Man könnte glauben, der Reichtum der Welt befinde sich hier.“
„Du brauchst neue Kleidung“, sagte Devlin. „Ich kümmere mich darum, dass Madame Didier morgen Zeit für uns hat.“
Sie blinzelte. „Ich brauche keine neuen Kleider.“ Natürlich war das gelogen. Jetzt, da sie nicht mehr in Breeches und Reitstiefeln herumlaufen konnte, benötigte sie wahrlich eine neue Garderobe.
„Es wird Teestunden und dergleichen geben, und dann und wann werden wir zu Soireen eingeladen“, sprach er. „Du brauchst Kleider für den Tag und ein Ballkleid.“
Ein Ball? Aber sie konnte doch gar nicht tanzen! „Das klingt so, als würden wir eine ganze Weile in der Stadt bleiben.“
„Wir werden hier so lange verweilen, wie es nötig ist“, beschied er ihr knapp.
„Wir sind da“, sagte er kurz darauf.
Sie schaute wieder aus dem Fenster und staunte.
Vor dem Fluss und den in den Himmel ragenden Kirchtürmen und Dachfirsten Londons hob sich die Silhouette eines prachtvollen Gebäudes ab. Waverly Hall kam Virginia auf den ersten Blick wie ein Schloss vor. Das große, aus Kalkstein erbaute Haus wurde an beiden Seiten von Türmen flankiert. Die Gartenanlagen waren atemberaubend – noch nie hatte sie im Herbst eine solche Farbenpracht gesehen!
„Virginia, dies ist nun für die nächste Zeit dein Zuhause.“
Ihre Vorfreude schwand. Für einen Moment hatte sie das Abkommen vergessen. Aber sie hatten eine Vereinbarung getroffen, und er würde seine Gefangene neu einkleiden lassen und sie zu Abendveranstaltungen mitnehmen: Jetzt würde sie in London zur Schau gestellt. Er würde sie und ihren Onkel weiter demütigen, bis Eastleigh kapitulierte und das Lösegeld zahlte.
Sie rückte ein wenig von ihm ab. „Dies ist nicht mein Zuhause. Ich hatte vergessen, dass es mein Gefängnis ist.“ Plötzlich kehrte die tiefe Traurigkeit zurück, die sie vor einigen Tagen befallen hatte, nachdem die Countess gegangen war.
„Du musst versuchen, dich wie zu Hause zu fühlen“, sagte er leise.
Sie rang sich ein dünnes Lächeln ab.
Der Butler, der sie ins Haus geleitete, verzog keine Miene. Mit angehaltenem Atem bestaunte Virginia die hohe, großzügige Empfangshalle mit dem Kristalllüster und den wertvollen Kunstgegenständen.
Die Fliesen waren aus hochwertigem Marmor. Großer Gott, Devlin war sogar noch reicher, als sie geglaubt hatte.
„Benson, dies ist Miss Hughes. Lassen Sie ihr Gepäck in meine Gemächer bringen, die sie mit mir teilen wird“, erklärte
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