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Wild wie das Meer (German Edition)

Wild wie das Meer (German Edition)

Titel: Wild wie das Meer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brenda Joyce
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mit einer Hand. „Nun, Fieber haben Sie nicht. Aber vielleicht sollten Sie trotzdem unverzüglich zu Dr. Mills gehen.“
    „Da haben Sie gewiss recht. Ich fürchte, ich habe mir eine Grippe zugezogen. Ich muss mich einen Moment setzen, bitte“, sagte sie und nahm auf der Bettkante Platz.
    „Lassen Sie sich Zeit.“ Mit einem aufmunternden Lächeln ging Miss Fern den Gang zwischen den zwanzig Betten hinunter und verließ den Schlafsaal.
    Virginia wartete und zählte im Stillen bis zehn. Dann sprang sie auf und eilte zu dem vierten Bett zu ihrer Linken. Geradewegs steuerte sie auf das Nachttischchen zu und begann, Schubladen zu durchwühlen, deren Inhalt ihr nicht gehörte. Ihr schlechtes Gewissen regte sich, aber sie ignorierte es.
    Sarah Lewis hatte immer Taschengeld, und tatsächlich fand Virginia rasch zwölf Dollar und fünfunddreißig Cent. Sie nahm das ganze Geld an sich und hinterließ eine Notiz in der Schublade, die sie nicht unterschrieb. Darin versprach sie, die Summe so schnell wie möglich zurückzuzahlen. Dennoch, sie fühlte sich furchtbar schlecht, einen Diebstahl zu begehen, und beinahe spürte sie die missbilligenden Blicke ihrer Mutter, die ihre Tochter vom Himmel aus beobachtete.
    „Ich werde Sarah das Geld zurückgeben, Mama, jeden einzelnen Cent“, wisperte sie schuldbewusst. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig. Sie brauchte Geld für die Reisekutsche und ein Gasthaus. So tapfer sie auch sein mochte, sie glaubte nicht, dass sie die ganzen achtzig Meilen nach Sweet Briar ohne Übernachtungen und Mahlzeiten zurücklegen könnte.
    Dann griff Virginia unter ihre Schlafstatt. In ihrem Mantel bewahrte sie ihre wenigen Habseligkeiten auf: den Kameeanhänger und den Hochzeitsring ihrer Mutter, die Pfeife ihres Vaters und ein Armband, das Tillie ihr einst aus Rosshaaren geflochten hatte, als sie acht Jahre alt gewesen war. Darüber hinaus hatte sie eine zweite Hemdbluse, Handschuhe und eine Haube. Der Mantel war zu einem Bündel zusammengefaltet und mit Bändern befestigt. Virginia trat ans Fenster an der einen Seite des Raums, schob es auf und ließ das Bündel auf den Gehweg fallen.
    Obwohl sie am liebsten gerannt wäre, zwang Virginia sich, die Treppe langsam und mit ernster Miene hinunterzugehen. Sie begegnete zwei Lehrkräften und erreichte schließlich das Ende der Halle. Vor ihr lag das schöne Foyer mit der hohen Decke. Die Eingangstür war während des Tages nicht verschlossen, da keine Schülerin je gewagt hätte, das Gebäude zu verlassen. Behutsam sah Virginia sich um. Dies war ihre letzte Chance zur Flucht, und wenn sie jetzt jemand sähe, wäre ihre Reise frühzeitig beendet.
    Aus einem Korridor schallten Schritte herüber. Geschwind eilte Virginia um eine Ecke und wagte kaum zu atmen. Deutlich vernahm sie zwei Stimmen und erkannte, dass es sich zweifelsohne um den Musik- und den Französischlehrer handelte. Sie befürchtete, die Herren würden das Foyer durchqueren und geradewegs auf sie zukommen – denn sämtliche Klassenräume lagen hinter ihr. Also schaute Virginia sich hastig um und verschwand schließlich in der Kammer des Hausmeisters.
    Die beiden Lehrer gingen an der Tür vorbei.
    Ein Schweißfilm stand auf Virginias Stirn. Das Warten wurde ihr zu viel. Vorsichtig drückte sie die Tür einen Spaltbreit auf und sah, dass die Eingangshalle leer war. Auf Zehenspitzen verließ sie die Kammer, spähte in das Foyer und sah auch dort niemanden mehr. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen, holte stockend Luft, stürzte zum Eingang und riss die schwere Tür auf. Die Sonne schien hell und warm, und die frische Frühlingsluft umfing ihre Sinne. Als Virginia nach draußen trat, glaubte sie, die Freiheit förmlich riechen zu können. Gott, wie gut sie sich fühlte!
    Sie lief den Weg entlang, der zu dem schmiedeeisernen Tor führte, betrat den öffentlichen Gehweg, bog um die Ecke und fand ihr Kleiderbündel. Rasch hob sie ihre Sachen auf und eilte davon.
    „Ich bin ja so froh, dass wir Sie auf Ihrer Reise begleiten durften, meine Liebe“, sagte Mrs. Cantwell mit einem Lächeln und umschloss Virginias Hände.
    Seit der Flucht waren drei Tage vergangen. Am ersten Morgen war Virginia die meiste Zeit zu Fuß unterwegs gewesen, bis sie das laute Treiben von Richmond hinter sich gelassen hatte. In einem Landgasthaus hatte sie eine herzhafte Mahlzeit bekommen, hungrig von dem langen Marsch. Und dort war sie auch auf die Familie Cantwell gestoßen – eine matronenhafte Frau, drei adrette

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