Wild wie das Meer (German Edition)
Hände vor Aufregung feucht waren. So viel stand nun auf dem Spiel. Eine neue Woge der Angst überflutete sie. Aber Charles King war immer ein guter Freund der Familie gewesen, und nun würde er in ihr nicht mehr das Kind, sondern eine verantwortungsvolle junge Dame sehen. Ganz bestimmt würde er ihr den nötigen Kredit gewähren, mit dem sie die Schulden ihres Vaters begleichen und Sweet Briar retten könnte.
In der grellen Sonne kniff Virginia die Augen fest zusammen, und ihr erstarb das Lächeln auf den Lippen. Gott, wie sie ihren Onkel, den Earl of Eastleigh, hasste! Einen Mann, den sie gar nicht kannte. Er hatte es nicht einmal für nötig befunden, mit ihr über die prekäre Situation der Plantage zu sprechen. Dabei gehörte sie doch ihr! Jedenfalls solange Sweet Briar nicht vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag verkauft würde ...
Wieder kamen ihr die Jahre bis zu ihrer Volljährigkeit wie eine Ewigkeit vor.
„Miss Virginia“, sagte Frank plötzlich und hielt sie am Arm zurück, als sie gerade das imposante, aus Kalk- und Backsteinen errichtete Bankgebäude betreten wollte.
Virginia hielt inne, der Magen krampfte sich ihr vor Angst zusammen. Dennoch rang sie sich ein kleines Lächeln ab. „Es könnte dauern – aber ich hoffe, dass es schnell geht.“
„Darum geht es nicht“, antwortete er schroff. Er war ein großer, gut aussehender Mann. Tillie hatte sich auf den ersten Blick in ihn verliebt, vor fünf Jahren. Dabei hätte das damals niemand vermutet, so, wie Tillie dem jungen Mann immer über den Mund gefahren war und sich aufgespielt hatte. Doch keine sechs Monate später hatte Frank Randall Hughes um Erlaubnis gebeten, Tillie zu heiraten, und Virginias Vater hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt. „Ich habe Angst, Miss Virginia, Angst, was aus Tillie und meinen Jungs wird, wenn Sie heute den Kredit nicht bekommen.“
Virginia war sich stets darüber im Klaren gewesen, wie groß die Verantwortung war, die sie nun gegenüber Sweet Briar und den Bewohnern hatte, aber jetzt drohte die schwere Bürde sie zu erdrücken. Zweiundfünfzig Sklaven waren von ihr abhängig, viele davon noch im Kindesalter. Tillie, ihre beste Freundin, war auf sie angewiesen, genau wie Frank. „Ich werde diesen Kredit bekommen, Frank. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“ Offenbar klangen ihre Worte überzeugend, denn Franks Augen weiteten sich erwartungsvoll, und er zog den Hut vor ihr.
Virginia schenkte ihm ein weiteres aufmunterndes Lächeln, ersuchte Gott im Stillen um Hilfe und betrat die Bank.
Gleich im Eingangsbereich umfing sie eine angenehme Kühle. Der große Raum mit der hohen Decke war Ehrfurcht gebietend, und als die schwere Tür hinter ihr ins Schloss fiel, war es still wie in einer Kirche. Zwei Kunden warteten vor dem Schalter des Kassierers, und weiter vorne stand ein Angestellter hinter einem Pult. Tiefer im Raum saß Charles King hinter einem großen Schreibtisch. Als der Bankier aufschaute und Virginia im Eingang erblickte, weiteten sich seine Augen vor Erstaunen.
Das ist der Moment, dachte sie, und reckte das Kinn stolz empor. Ihr Lächeln kam ihr merkwürdig gequält vor, als sie die Lobby durchmaß und den hinteren Bereich der Bank betrat.
Mr. King erhob sich. Er war ein beleibter, gut gekleideter Mann, der noch eine altmodische gepuderte Perücke trug, deren graue Haare am Hinterkopf zu einem kleinen Zopf zusammengebunden waren. „Virginia! Meine Liebe, für einen Moment glaubte ich, deine Mutter zu sehen, Gott schenke ihrer Seele Frieden.“
Ihr Vater hatte ihr oft gesagt, dass sie ihrer Mutter ähnelte, aber Virginia hatte den Beteuerungen nie geglaubt, weil ihre Mutter so schön war. Allerdings stimmte es, dass sie das gleiche, beinahe schwarze Haar und die violett leuchtenden Augen ihrer Mutter besaß. Sie reichte dem Bankier die Hand, die dieser fest umschloss, offenkundig erfreut, Virginia zu sehen. „Ein Trugbild bei diesem Licht, nehme ich an“, sagte sie und war selbst ganz beeindruckt von ihrem damenhaften Auftritt. Schließlich galt es, Mr. King davon zu überzeugen, dass aus ihr eine fähige junge Dame geworden war.
„Ja, das mag sein. Ich dachte, du besuchst die Schule in Richmond. Aber tritt näher – wolltest du mich sprechen?“, fragte er, wobei er sie zu seinem Schreibtisch und den hohen Lehnstühlen führte, die für seine Kunden bestimmt waren.
„Ja, deswegen bin ich gekommen“, erwiderte Virginia und umklammerte das elegante Retikül aus schwarzem Samt, das
Weitere Kostenlose Bücher