Wild wie das Meer (German Edition)
gerade erst aufgewacht. Mit den Gedanken war sie nur bei ihrem Geliebten. Letzte Nacht hatte er sie leidenschaftlich geliebt, und jetzt hatte sie das untrügliche Gefühl, dass ihr Verhältnis sich geändert hatte.
Doch nun zögerte sie aus alter Gewohnheit, denn in den zurückliegenden Monaten hatte sie wiederholt erfahren müssen, wie rücksichtslos und unberechenbar Devlin war. Ein Teil von ihr entsann sich all der Demütigungen und Zurückweisungen, und das erfüllte sie mit Furcht. Aber seine leidenschaftliche Hingabe in der letzten Nacht war kein Traum gewesen.
Sorgsam glättete sie die Falten ihres neuen Gewands und klopfte an die Tür. „Devlin?“
Keine Antwort.
Vorsichtig öffnete Virginia die Tür und trat in die Bibliothek. Es war niemand da. Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Briefe, einer davon trug noch kein Siegel. Schuldbewusst schaute sie zur Tür, doch da niemand kam, nahm sie den Brief zur Hand und las.
Lord Admiral St. John an Sir Captain Devlin O’Neill
Waverly Hall
Greenwich
20. November, 1812
Sir Captain O’Neill,
bitte nehmen Sie das Nachfolgende zur Kenntnis. Ihre neue Order lautet, am 14. Dezember in See zu stechen und Kurs auf die Küsten Marylands und Virginias zu nehmen, wo Sie gemeinsam mit der HMS „Southampton“, der HMS „Java“ und der HMS „Peacock“ die Blockade der Buchten von Delaware und Chesapeake zu errichten haben. Sämtliche amerikanischen Schiffe werden aufgebracht und durchsucht. Die Art der Ladung und Besatzung ist zu ermitteln, und jedes amerikanische Schiff, zivile Boote mit eingeschlossen, das im Werdacht steht, an Kriegshandlungen beteiligt zu sein, ist aufzubringen oder umgehend zu vernichten. Gleichwohl müssen alle Anstrengungen unternommen werden, die amerikanische Zivilbevölkerung zu schützen; sollten amerikanische Zivilisten indes in Werdacht geraten, sich militärisch zu betätigen, so ist dem Werdacht im Einzelfall nachzugehen. Entsprechende Maßnahmen gemäß des von Seiner Majestät verhängten Kriegsrechts sind zu ergreifen.
Hochachtungsvoll
Lord Admiral St. John
Die Admiralität
Brook Street 13
West Square
Virginias Hände zitterten. Devlin wurde in den Krieg geschickt, und er würde schon bald aufbrechen. Ihre Lippen bebten, und sie war ganz krank vor Sorge um ihn.
Sie versuchte sich mit der Gewissheit zu beruhigen, dass Devlin seit seinem dreizehnten Lebensjahr in Kriegshandlungen verwickelt war. Aber das gab ihr auch keine Sicherheit; sie fürchtete um sein Leben.
Dann dachte sie an den weiteren Wortlaut der Order. Beklommen suchte sie Halt an der Rückenlehne des Schreibtischstuhls. Großer Gott, er zog in den Krieg gegen ihr Land. Nur wenige Meilen von ihrer Heimat entfernt würde er gegen ihre Landsleute kämpfen!
„Virginia?“
Sie schaute zur Tür und sah ihn hereinkommen. Schwer schluckend sagte sie: „Ich wollte nicht neugierig sein. Ich habe dich gesucht. Ich habe deine Order gesehen.“
Er blieb stehen und warf einen flüchtigen Blick auf das amtliche Schreiben. „Meine Befehle sind konfidentiell.“ Er schaute sie unverwandt an.
„Konfidentiell?“
„Vertraulich. Sie sind nur für meine Augen, für die Admiralität und das Kriegsministerium bestimmt.“
„Tut mir leid.“ Ihr Atem ging schnell; sie wusste nicht, was sie tun sollte. „Du musst fort?“
„Ja.“ Er starrte sie grimmig an. „Und zwar so schnell wie möglich.“
Er hätte es bei dem Ja belassen können; stattdessen hatten ihr seine nachfolgenden Worte einen heftigen Schlag versetzt. Sie stützte sich auf dem Schreibtisch ab. „So schnell wie möglich?“, wiederholte sie.
Sein Blick war starr. „Ja.“
Gewiss hatte dies nichts zu bedeuten, gewiss hatte es nichts mit ihr oder der gemeinsam verbrachten Nacht zu tun. Nervös strich sie sich mit der Zunge über die Unterlippe. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. „Kannst du die Abreise nicht noch ein wenig hinauszögern?“
„Wohl kaum.“ Er sah sie ernst an. „Ich werde dich nach Hause bringen, nach Virginia.“
Ihr stockte das Herz, und der Stich, den sie in der Brust verspürte, nahm ihr den Atem. „Was?“
„Ich werde einen anderen Weg finden, Eastleigh zur Rechenschaft zu ziehen. Es ist Zeit für dich zu gehen.“
Kraftlos sank Virginia auf den Stuhl. Sie traute ihren Ohren nicht. Jetzt wollte er sie fortschicken? Nach all der Leidenschaft, nach all den Stunden der Liebe? „Aber ...“
„Aber was?“, fragte er scharf.
„Aber letzte Nacht“, beschwor sie ihn. „Jetzt ist
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