Wilde Chrysantheme
»Aber ein Humpen Milchsuppe wäre jetzt nicht verkehrt.«
»Ich werde den Punsch sofort bestellen, Miss. Gehen Sie nur ruhig auf Ihre Zimmer und überlassen Sie alles andere mir.« Mr. Garston klang jetzt wie ein wohlwollender Onkel, als er die beiden gähnenden jungen Frauen anstrahlte.
Juliana beobachtete die Szene mit unverhohlener Neugier. Die Frauen waren beide recht hübsch, kostspielig gekleidet und elegant frisiert, doch ihre Gesichter waren so stark geschminkt und gepudert, daß man ihr Alter kaum zu schätzen vermochte. Sie waren sicherlich jung, aber wie jung, konnte Juliana nicht entscheiden.
»Und wen haben wir hier?« sagte Miss Lilly, als sie einen Blick auf Juliana hinter der massigen Gestalt von Mr. Garston erhaschte. Sie betrachtete das junge Mädchen mit Interesse, musterte kritisch das schlichte Kleid und das in aller Eile hochgesteckte Haar. »Ein neues Dienstmädchen?«
»Das glaube ich nicht, Miss«, erwiderte Garston mit einem bedeutungsvollen Kopfschütteln. »Aber Mistress Dennison hat mir noch nicht so recht erklärt, welche Pläne sie mit der jungen Dame hat.«
»Ach?« Miss Emma blickte Juliana mit hochgezogenen Brauen an. »Nun, ich würde sagen, das finden wir bald genug heraus. Nun komm schon, Lilly, ich falle um vor Müdigkeit.«
Die beiden rauschten die breite Treppe hinauf, wobei sie wie Elstern schwatzten, und ließen Juliana verunsichert, verärgert und in zunehmendem Maße beunruhigt zurück.
»So, Missy, und Sie gehen jetzt wieder auf Ihr Zimmer«, sagte Mr. Garston energisch. »Wenn Sie dort sind, klingeln Sie, und das Hausmädchen wird kommen und Ihnen bringen, was immer Sie verlangen. Mistress Dennison kümmert sich dann um alles Weitere und ruft Sie zu sich, wenn sie aufsteht.«
»Um welche Zeit wird das sein?« Juliana überlegte, ob sie sich nicht blitzschnell an ihm vorbeiducken und die Tür erreichen könnte, bevor er sie daran hinderte.
»Gegen Mittag«, erklärte er. »Um die Zeit empfängt sie Besucher in ihrem Schlaf gemach, während sie sich ankleidet.« Als hätte er ihre Gedanken erraten, fuhr er rasch zu der offenen Tür herum und knallte sie zu.
Juliana stand stirnrunzelnd da. Es hatte ganz den Anschein, als wäre sie eine Gefangene in diesem Haus. Und was war das überhaupt für eine Frau, die Besucher in ihrem Schlafzimmer empfing, während sie sich für den Tag ankleidete?
Im Moment schien sie jedoch nicht viel an ihrer Lage ändern zu können, und so kehrte sie nachdenklich in die Abgeschiedenheit ihrer Schlafkammer im obersten Stock zurück, um sich die Situation durch den Kopf gehen zu lassen. Man konnte sie nicht gegen ihren Willen unbegrenzte Zeit hier festhalten, und Mistress Dennison hatte bisher auch nicht erkennen lassen, daß dies ihre Absicht wäre.
Das Dienstmädchen, das auf ihr Klingeln hin das Zimmer betrat, schien kaum einen Ton herauszubringen und war offenbar nicht fähig, mit mehr als einem Knicks und einem gemurmelten »Ja, Miss« auf Julianas wiederholte Bemühungen zu reagieren, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Sie konnte entweder keine direkten Fragen über Mistress Dennisons Etablissement beantworten oder wollte es nicht, und als sie wieder ging, stellte Juliana fest, daß ihr der Appetit auf das reichhaltige Frühstückstablett vor lauter wachsendem Unbehagen vergangen war.
Als sie wenige Augenblicke später hörte, wie der Schlüssel draußen im Schloß herumgedreht wurde, sprang sie erschrocken von ihrem Stuhl auf, raste durch das Zimmer, um an der Klinke zu rütteln, und fand die Tür verschlossen vor. Zehn volle Minuten lang hämmerte sie mit den Fäusten gegen das Holz und protestierte aus Leibeskräften. Aber sie konnte nicht das leiseste Geräusch in dem Korridor draußen vernehmen.
Sie lief zum Fenster und blickte auf die Straße hinunter, die drei Stockwerke unter ihr lag. Das Mauerwerk des Hauses bot keinerlei Halt für Hände oder Füße, und es rankten auch keine Glyzien oder andere kräftige Pflanzen an der Wand empor, an denen sie hätte hinunterklettern können. Die Fenster in der Etage unter ihrem Zimmer hatten kleine, schmiedeeiserne Balkone; Juliana würde es jedoch nicht schaffen, von dem schmalen Sims vor ihrem eigenen Fenster hinunterzuspringen und sicher auf einem der Balkone zu landen. Sie überlegte, ob sie die Passanten auf der Straße um Hilfe bitten sollte, aber was könnte sie sagen? Daß sie eine Gefangene sei? Wer würde schon Notiz davon nehmen? Die Leute nahmen bestimmt an, sie wäre
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