Wilde Flammen
im Spiegel. Die Frau, die ihr entgegensah, war relativ klein und zierlich, ohne die üppigen Kurven, die Duffy bei seinen Showgirls bevorzugte. Schön, die Beine waren nicht übel, in dem Kostüm für ihren Auftritt wirkten sie sogar ziemlich lang. Schmale Hüften, befand sie und schürzte kritisch die Lippen. Eher die Hüften eines Jungen denn die einer Frau, und was die Oberweite betraf â nun, die würde niemanden zu Begeisterungsstürmen hinreiÃen.
In der Zirkustruppe gab es unzählige Frauen, die attraktiver waren und ganz bestimmt auch wesentlich mehr Erfahrung hatten. Nein, die Frau da im Spiegel war sicherlich nichts, was einen weltgewandten Anwalt aus Chicago beeindrucken konnte.
Er muss doch Dutzende von Frauen kennen, dachte sie, als sie ihre langen dichten Haare zu einem festen Zopf flocht. Wahrscheinlich geht er jeden Abend mit einer anderen zum Dinner aus, einer, die elegante Kleider und teure Parfüms trägt. Diese Frauen hatten sicher wohlklingende Namen wie Laura oder Patricia und lachten perlend mit tiefer, angenehmer Stimme.
Jo krauste die Nase und versuchte sich an einem solchen Lachen. Es klang gekünstelt und affektiert. Beim Dinner würden sie über gemeinsame Bekannte reden, über die Wallaces oder die Jamesons, bei Kerzenlicht und einem Glas Beaujolais. Und dann würde er die Schönste von ihnen mit zu sich nach Hause nehmen. Sie würden Chopin lauschen und vor dem Kaminfeuer einen Cognac trinken, bevor er sie in sein Bett einlud.
Bei dem Gedanken zog sich Jos Magen unangenehm zusammen, dennoch spann sie die Geschichte weiter. Ja, sie würden sich lieben, und die schöne Lady war erfahren und leidenschaftlich, ihre Haut hell und seidig. Und wenn es zu Ende ging, dann war sie nicht am Boden zerstört, sondern nahm es gelassen hin, ohne eine Szene zu machen. SchlieÃlich war man zivilisiert.
Jo starrte ihr Konterfei an. Der Frau im Spiegel rannen Tränen über die Wangen. Mit einem frustrierten Aufschrei schlug sie die Schranktür mit Wucht zu. Was ist nur in mich gefahren? Unwirsch wischte sie sich die Tränen von den Wangen. Schon seit Tagen bin ich nicht mehr ich selbst! Ich muss das endlich abschütteln, was immer es auch ist. Sie schlüpfte in ihre Gymnastikschuhe, hängte sich den Bademantel über den Arm und verlieà ihren Wohnwagen.
Entschlossen untersagte sie sich jeden weiteren Gedanken an Keane Prescotts Liebesleben. Stattdessen konzentrierte sie sich ganz darauf, nicht in eine der vielen Pfützen zu treten, als sie eilig über den Platz lief. Auf halbem Wege kam ihr Rose entgegen. An der Miene ihrer Freundin erkannte Jo sofort, wie wütend diese war.
»Hallo, Rose.« Hastig wich sie aus, als die Schlangenbeschwörerin wutentbrannt durch eine Pfütze stapfte.
»Ich sagâs dir, er ist ein hoffnungsloser Fall!« Aufgeregt wedelte Rose mit dem Zeigefinger. »Jetzt reicht es mir. Endgültig! Ich verschwende nur meine Zeit.«
»Geduld hast du auf jeden Fall bewiesen.« Mitgefühl war wohl in dieser Situation angebracht. »Mehr, als er verdient.«
»Die Geduld einer Heiligen!« Theatralisch legte Rose sich die Hand aufs Herz. »Aber selbst eine Heilige stöÃt an ihre Grenzen.« Sie schüttelte das Haar zurück und seufzte schwer. » Adiós. Ich glaube, meine Mutter ruft mich.«
Auf dem Weg zum Hauptzelt begegnete ihr Jamie. Die Hände tief in den Taschen vergraben, murmelte er vor sich hin: »Sie ist irre.« Er blieb stehen und breitete die Arme aus. »Sie ist völlig irre!«, rief er. Sein Gesichtsausdruck war der eines missverstandenen und völlig zu Unrecht beschuldigten Mannes. Dann ging er mit hängendem Kopf weiter.
Jo sah ihm nach, bis er verschwunden war, dann rannte sie zum Zelt. In der Manege sah Carmen bewundernd Vito zu, der eine neue Nummer auf dem Seil einstudierte. Das Zelt hallte wider vom Lärm der Proben. Artisten riefen sich Kommandos zu, Hunde bellten, überall raschelte und klingelte und dröhnte es. Am Rand der Manege machten die Beirots ihre ersten Aufwärmübungen. Jo war also noch nicht zu spät dran, wie sie zufrieden feststellte. Hoch über ihrem Kopf erschallte plötzlich ein gellendes Pfeifen. Sie sah auf und winkte Vito zu, der dort oben auf dem Seil gerade eine Drehung vollzog.
»Hey, Kleines, deine Rückansicht ist wirklich hübsch. Fast so hübsch wie
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