Wilde Pferde in Gefahr
das Gras nicht mal in Montana wuchs, mit Wildblumen in leuchtenden Farben übersät. Ehrfürchtig blickten sie an dem Felsmassiv empor, das sich vor ihnen erhob, ein riesiger Kegel aus grauem Stein, mit glatten Flächen, wie mit einem Bügeleisen geplättet, und mit schroffen Abhängen, die dunkel und geheimnisvoll im Schatten lagen. Ein Adler zog seine einsamen Kreise und suchtemit scharfen Augen nach Beute. Tiefe Stille lag über der Bergwiese.
Sie ließen die Pferde grasen und picknickten auf der breiten Felsennase. Während sie sich die Sandwiches schmecken ließen und von dem kühlen Wasser aus den Feldflaschen tranken, genossen sie die Aussicht, die noch großartiger war, als Charlie sie beschrieben hatte. Weit unter ihnen sprudelte der Truckee River durch ein tiefes, von steilen Felswänden begrenztes Tal, westlich davon ragten gewaltige Gipfel aus dunklen Fichtenwäldern empor. Der betörende Duft der vielen Blumen vermischte sich mit dem Harzgeruch, der von den unzähligen Fichten in den Bergtälern emporstieg.
»Wo bist du zu Hause, Donna?«, fragte Peggy vorsichtig.
»Ich hab kein Zuhause mehr«, antwortete das Mädchen. »Als ich klein war, haben wir in Denver gewohnt. Da gab es auch hohe Berge, aber hier ist es schöner. So still und so … feierlich. Meine Eltern haben immer gestritten.« Sie blickte eine Weile stumm in das Tal hinab, ließ wohl Bilder aus der Vergangenheit vor ihren Augen vorbeiziehen. »Jetzt sind sie beide tot. Mein Vater ist im Krieg gestorben, und meine Mutter … sie hat irgendein giftiges Zeug genommen, von dem ihr schlecht wurde. Sie ist im Krankenhaus gestorben. Ich hab nicht mal geweint.« Sie trank einen Schluck Wasser und blickte zu dem Adler empor. Er hatte eine Beute entdeckt, schoss vom Himmel und verschwand miteinem kleinen Tier in den Fängen über den Bäumen. »Meinst du, sie stecken mich in ein Heim, Peggy?«
Peggy schüttelte den Kopf. »Sie wollen, dass du dich erholst«, wich sie aus. »Deshalb bist du bei Annie und Charlie. Wenn deine Ferien vorbei sind, geht es dir sicher besser. Deine Tante freut sich bestimmt schon auf dich.«
»Ich will nicht mehr bei ihr wohnen«, sagte Donna.
Sie aßen eine Weile schweigend, jede in ihre Gedanken vertieft. Donna hatte Tränen in den Augen. Peggy bedauerte, sie auf ihre Eltern angesprochen zu haben. Doch der Wind, der von den Gipfeln herabwehte, vertrieb die quälenden Gedanken und ließ Donna bald wieder lächeln. Dies war kein Ort, um zu trauern oder sich Sorgen zu machen.
Nur die Wehmut blieb. Als Donna ein Reh und sein unbeholfenes Kitz auf dem Talboden entdeckte, blickte sie Peggy an und sagte: »Weißt du, was? Ich wollte, Annie wäre meine Mutter. Dann könnte ich für immer hierbleiben.«
6
White Lightning und ihre Adoptivmutter schmusten vergnügt auf der Koppel, als Peggy und Donna von ihrem Ausflug heimkehrten. Beide Reiterinnenversorgten ihre Pferde und stellten sie im Stall unter, damit sie dort in Ruhe fressen und sich von dem langen Ritt ausruhen konnten.
Donna war müde und erschöpft, aber wieder guter Dinge. »Stell dir vor, Annie, ich hab eine Rehmutter mit ihrem Kitz gesehen. Oben auf der Bergwiese.«
»Das ist ja toll«, erwiderte Annie. »Und wie klappt es mit dem Reiten?«
Peggy lächelte zufrieden. »Wenn sie so weitermacht, macht sie mir beim Rodeo bald Konkurrenz. Sie reitet hervorragend. Nur an den steilen Stellen, da hapert es noch ein wenig. Aber das wird schon.«
»Und das Picknick hat ganz toll geschmeckt.«
Annie blickte Peggy dankbar an und wandte sich dann an Donna: »Na, dann geh erst mal in dein Zimmer und ruh dich aus. Ich hab dir ein Buch aus der Stadt mitgebracht.«
»Au, prima. Dann fang ich gleich an zu lesen.«
Während sie davonrannte, kam Charlie mit einem Packen Briefumschläge herein. »Hallo, Donna! Wie war’s?«, rief er, und Donna schaffte gerade noch ein »Super!«, dann klappte ihre Zimmertür zu. Charlie legte die Umschläge auf den großen Esstisch, der bereits mit einem dicken Stapel Briefe belegt war. »Anscheinend hat es ihr Spaß gemacht. So ausgelassen hab ich sie lange nicht mehr erlebt. Peggy, ich glaube, das haben wir dir zu verdanken. Ich bin froh, dass du geblieben bist.«
Peggy griff dankbar nach dem Glas mit kühlerLimonade, das Charlie ihr reichte. »Schreibst du Briefe wegen der Mustangs?«, fragte sie die Ranchbesitzerin, nachdem sie einen Schluck getrunken hatte. Die Limonade schmeckte köstlich. »Das sind doch bestimmt hundert Briefe …
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