Wilde Rosen: Roman (German Edition)
den der Besuch von Schleimbeutels Finsterlingen ihr versetzt hatte.
»Nein! Das könnte ich niemals verlangen. Es ist Weihnachten!«
»Ich weiß. Aber das ist kein Grund, warum ich nicht in deiner Abwesenheit hier wohnen sollte, damit dein Boot nicht unbewacht ist.«
May hatte nachgedacht und schüttelte den Kopf. »Ich hab’ eine bessere Idee.«
»Und zwar?«
»Ich bringe das Boot weg. Es gibt einen kleinen Seitenarm auf der gegenüberliegenden Seite vom Treidelpfad. Da paßt ein schmales Boot wie meins hinein, und der Seitenarm ist von überhängenden Ästen und so weiter verdeckt, man kann ihn kaum sehen.«
»Ach ja?«
»Das einzige Problem ist, man muß eine Mauer hochklettern, um von da wegzukommen, wenn man das Boot festgemacht hat. Aber es ist ein perfektes Versteck.«
»Woher weißt du von der Stelle, wenn sie so unzugänglich ist?«
»Ein Bekannter hat sich da mal verkrochen, als er fürchtete, der Freund seiner Exfrau habe es auf seine Männlichkeit abgesehen. Ich bin immer hingerudert und hab’ ihm Vorräte gebracht. Aber Slaters Leute würden die Stelle nie im Leben finden.«
»Verstehe.«
»Ich bring’ das Boot morgen früh hin, ehe ich zu meinen Eltern fahre.«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht morgen. Jetzt.«
Die Furcht, die langsam abgeklungen war, kam zurück wie hartnäckige Zahnschmerzen. »Wieso jetzt? Denkst du, sie könnten heute abend zurückkommen?«
Hugh schwieg so lange, daß May nur das Schlimmste befürchten konnte. Schließlich sagte er: »Ich denke lediglich, es hat keinen Sinn, vermeidbare Risiken einzugehen.«
May atmete tief durch. »Okay. Ich werf’ den Motor an.«
Es fiel ihr gar nicht auf, wie selbstverständlich sie davon ausgegangen war, daß Hugh ihr helfen würde, bis sie ihn mit dem Haltetau am Bug stehen sah. Als er wieder auf das Deck sprang, dankte sie ihm im Geiste.
Sie hatten wenig Freude an der kurzen Fahrt, fanden aber doch eine gewisse Befriedigung darin, einträchtig zusammenzuarbeiten. Als beide Enden des Bootes sicher im Versteck vertäut waren und der Motorenlärm verstummt war, ging May zu Hugh in den Salon.
»Hättest du vielleicht Lust, über Weihnachten mit mir nach Hause zu kommen?« fragte sie unumwunden.
Hugh hob den Kopf und sah sie scharf an. Damit hatte er offenbar überhaupt nicht gerechnet. Und May ebensowenig. Sie hatte sie beide überrumpelt.
»Das ist ausgeschlossen. Aber es ist sehr freundlich ...«
May schüttelte den Kopf. »Das ist keine Freundlichkeit, sondern Selbstverteidigung. Wenn ich mit einem Mann komme – irgendein Mann –, selbst wenn nicht das geringste zwischen uns läuft, würde das meine Position innerhalb meiner Familie stärken. Meine Brüder würden mich nicht pausenlos damit aufziehen, was für eine radikale Feministin ich bin, der kein Mann zu nahe kommen will. Und meine Mutter wäre hingerissen.«
Mußte sie ihm wirklich erklären, warum? Aber schonungslose Ehrlichkeit war vermutlich die beste Methode bei Hugh, schließlich war er Jurist.
»Sie wird natürlich denken, du bist mein Freund, ganz gleich, wie oft ich das Gegenteil behaupte. Aber sie würde sich wirklich freuen. Sie sagt, es sei wichtig, Leute von außerhalb der Familie über Weihnachten da zu haben, damit meine Brüder und ich nicht immerzu streiten. Du würdest uns allen einen Gefallen tun.«
»Ich bin sicher, ihr werdet auch ohne mich zurechtkommen.«
Plötzlich schien es May furchtbar wichtig, daß er ihre Einladung annahm. »Natürlich kämen wir zurecht! Aber ich würde mich wirklich freuen, wenn du mitkämst. Bitte.«
Hugh sah sie so lange an, daß May Mitleid mit all den Schriftstücken bekam, die er unter die Lupe nahm.
Sie brach das Schweigen. »Meine Mutter ist eine wunderbare Köchin. Ihr Weihnachtsessen wäre wenigstens eine kleine Wiedergutmachung dafür, daß du mich retten mußtest.«
Plötzlich lächelte Hugh. »In dem Fall nehme ich gerne an.«
Erleichterung nahm May die letzte Energie, die sie noch gehabt hatte. »Dann ruf’ ich meine Mutter an und geb’ ihr Bescheid.«
»Bist du sicher, daß es ihr nicht ungelegen kommt?«
»Nein, nein, ganz bestimmt nicht. Wir haben zwei Gästezimmer, wenn man das Arbeitszimmer meines Vaters mitrechnet. Und ich glaube nicht, daß sonst irgendwer über Nacht bleibt. Meine Tante und ihre Familie kommen immer zu Fuß.«
»Wann willst du fahren?«
»Morgen.«
»Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?«
May grinste. »Normalerweise holt mein Vater mich ab, aber heute ist sein
Weitere Kostenlose Bücher