Wilde Wellen
wenige persönliche Sachen wegräumen zu lassen. Ihre Kaffeetasse aus dunkelblauer Keramik. Die kleine Duftlampe, die sie immer nur abends angezündet hatte, wenn sie sich allein im Büro wusste, um länger zu arbeiten. Die Näpfe von Merlin, die blank geputzt in einer Ecke standen. Sie hatte den Hund nicht oft mit ins Büro gebracht. Nur hin und wieder, wenn sie samstags arbeitete oder sonntags, da hatte sie es nicht übers Herz gebracht, den Hund allein zu lassen. »Er freut sich doch so aufs Wochenende. Wenn ich Zeit für ihn habe.« Sie wollte dem Hund nicht mehr Kummer machen, als nötig war. Genauso wenig wie den Menschen, die sie umgaben.
Caspar zuckte zusammen, als die Tür geöffnet wurde.
»Was machst du hier?« Leon sah ihn verblüfft an.
»Ich dachte, es wäre gut, wenn ich in deiner Nähe wäre.« Der Junge sprang hastig von Célines Stuhl auf. Der Pfingstrosenstrauà war nicht mehr da. Ebenso wenig wie Célines Habseligkeiten.
»Wenn du nicht willst, dass ich hier bin, musst du es nur sagen. Ich kann auch wieder in mein altes Büro.«
»Nein, es ist eine gute Idee. Ich wundere mich, wieso ich nicht selbst darauf gekommen bin. Ich freue mich, dich in meiner Nähe zu haben.«
Er freute sich wirklich. Dass sein Sohn so viel Initiative zeigte, mitdachte und ihn wohl wirklich stützen wollte in dieser Zeit, berührte ihn. Er musste zugeben, dass er das nicht erwartet hatte. Denn im Gegensatz zu Claire war Leon ganz und gar nicht überzeugt, dass sein Sohn der richtige Mann für seine Firma war. Aber vielleicht hatte er sich ja getäuscht. Vielleicht wäre das wenigstens etwas Gutes, was Célines Tod mit sich brachte: dass Caspar plötzlich erkannt hatte, wie kurz das Leben sein kann. Und dass man es nicht nur so dahinplätschern lassen darf.
Leon ahnte nicht, dass Caspar durchaus begriffen hatte, dass er sein Leben in die Hand nehmen musste. Noch weniger ahnte er, dass Caspar ganz eigene Pläne hatte. Und auch schon eine Idee, wie es ihm gelingen konnte, diese Pläne umzusetzen.
Marie trieb es noch einmal zum Unfallort. Es konnte doch nicht sein, dass es nichts gab, was auf den Unfallfahrer hingewiesen hätte. Dabei wusste sie, dass das natürlich sein konnte. Das Auto musste Céline ja nur am Bein erfasst haben, dann wäre überhaupt nichts zu sehen. Nicht hier. Nicht am Auto. Allerdings hatte im Obduktionsbericht, den ihr die Kollegen gemailt hatten, nichts von einem Hämatom am Bein gestanden. Vielleicht war sie ja auch nur am Schuh berührt worden. Marie setzte sich ins Gras. Die Bilder vom Unfallort stiegen in ihrem Gedächtnis auf. Céline, wie sie dalag, das Fahrrad in die Wiese, der zähnefletschende Hund. Und Paul mit seinem erschütterten, fassungslosen Blick.
Sie zuckte zusammen, als sie die Schreie hörte
»Das sind die Toten der Helena .« Als sie sich umdrehte, sah sie im Gegenlicht eine dunkle Figur stehen, die einen langen Stock in der Hand hatte.
»Wer sind Sie?« Marie sprang auf. Als sie die Schafe in der Nähe grasen sah, wusste sie, dass sie Xavier, den Schäfer, vor sich hatte. Sie hatte gehört, dass er ein Freund von Céline gewesen sei.
»Sie sind nicht erlöst, bis die Wahrheit ans Licht kommt.«
Marie wusste nicht, was er meinte. Die Schreie wurden lauter. Sie spürte einen Schauder ihren Rücken herunterlaufen. Was redete der Mann? Von unerlösten Seelen, deren Schreie man hören konnte?
»Kein Toter kommt zur Ruhe, bevor die Schuld nicht gesühnt worden ist.«
Die blauen Augen des Mannes verschleierten sich, als er den Unfallort betrachtete.
»Sind Sie in der Nähe gewesen, als Céline verunglückte? Haben Sie etwas gesehen? Ein Auto? Können Sie es beschreiben?«
Ein Funken Hoffnung glomm in Marie auf. Hier war vielleicht ein Zeuge. Doch die Hoffnung erlosch sofort. Der Schäfer schüttelte den Kopf.
»Die Schafe waren auseinandergelaufen in jener Nacht. Der Sturm hatte sie verängstigt. Ich musste sie wiederfinden, bevor sie die Klippen hinunterstürzten.«
»Sie kannten Céline. Die Leute sagen, Sie waren ihr Freund. Sie würden es mir doch sagen, wenn Sie etwas wüssten?«
»Du kannst sie erlösen, Marie. Es ist an dir, das Verborgene sichtbar zu machen.«
Es war, als würde seine Stimme durch den Wind verweht werden. Als würde sie sich mit den Schreien, die vom Meer
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