Wilder als der Hass, süsser als die Liebe
erkennen können. Flach auf dem Bauch liegend, kroch er vorsichtig die Oberfläche hinab, wobei der rauhe Stein seine Finger aufriß. Als er am Rand angelangt war, hob er langsam ein Stück den Kopf und blickte über die Schlucht. Wie er es gehofft hatte, konnte er von hier oben aus drei nichtsahnende Bucharer deutlich anvisieren. Seine Lippen preßten sich zusammen, als er feststellte, daß keiner der Männer, die er erkennen konnte, den typischen bulligen Körperbau von Shahid Mahmud aufwies. Das war ärgerlich -wenn er den Jawer hätte erschießen können, wäre der Kampf wahrscheinlich zu Ende gewesen, ohne daß noch jemand verletzt werden mußte.
Aber gut, so war es nicht. Ross tötete nicht gerne, doch wenn er die Wahl zwischen dem Leben seiner Freunde und dem von Unbekannten hatte, würde er tun, was nötig war. Einen Augenblick überlegte er, wie er am besten schießen sollte. Dann legte er sein Gewehr gegen die Schulter, zielte sorgfältig, zog den Wind in Betracht und feuerte.
Die erste Kugel flog tödlich und direkt in die Brust seines Zieles. Ohne innezuhalten, um den Mann zu Boden stürzen zu sehen, lud Ross nach und feuerte wieder. Das zweite Ziel bewegte sich, versuchte im Angesicht der unerwarteten Gefahr zu fliehen, und Ross traf nur die Schulter. Aber es reichte, denn der Mann schrie auf, ließ seine Waffe fallen und griff sich an die Wunde. Er würde heute keinen vernünftigen Schuß mehr abgeben.
Inzwischen war der dritte Bucharer außer Sicht verschwunden, aber zwei ihrer Feinde ausgeschaltet zu haben, verbesserte die Situation für sie enorm. Nachdem er wieder nachgeladen hatte, ließ sich Ross millimeterweise weiter abwärts gleiten und tröstete sich damit, daß nur sieben Meter unter ihm ein zweiter Vorsprung hervorragte - selbst wenn er hinabstürzte, würde er sich vermutlich nicht den Hals brechen. Dann hob er wieder den Kopf und versuchte, Shahid Mahmud auszumachen, der irgendwo auf der gegenüberliegenden Seite sein mußte.
Die Kugel, die ihn traf, spürte Ross nicht mehr.
Am liebsten hätte Juliet laut applaudiert, als die Schüsse durch die Schlucht hallten. Als dem zweiten Krachen ein Schrei folgte, nickte Ian anerkennend. »Hört sich an, als hätte Ross einen erwischt.«
»Zwei«, korrigierte Juliet stolz. »Bei seiner üblichen Trefferquote hat der erste Schuß bestimmt einen direkt getötet.«
Sie schaute hoch und sah eine schwarze Qualmwolke über sich, die sich in dem steifen Wind rasch auflöste. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf seinen weißen Turban und dachte mit Unbehagen daran, wie prekär seine Position dort oben war; wie gut, daß Ross keine Höhenangst hatte.
Ein weiterer Schuß krachte los und hallte von der gegenüberliegenden Seite wider. Juliet wußte sofort, daß etwas nicht stimmte, denn das Gewehr hatte sich wie eines der Bucharer angehört, kam aber von ihrer Seite der Schlucht.
Im nächsten Augenblick und direkt vor ihren entsetzten Augen rutschte ihr Mann über die Felskante, gleichzeitig ertönte ein heiserer Triumphschrei, der grausam in der Schlucht widerhallte.
Ross fiel mit entsetzlicher Langsamkeit, sein Sturz wurde gebremst durch dornige Büsche, die aus der felsigen Oberfläche herauswuchsen. Ein Ast verfing sich in seinem Turban und riß ihn auf, so daß weißer Stoff wie ein Banner im Wind flatterte und das goldene Haar in der Sonne funkelte.
Sein Gewehr flog lautlos in der gleißenden Sonne, bis es dann irgendwo mit einem harten metallischen Scheppern auf Stein traf.
Dann verschwand er außer Sicht, als er auf dem Vorsprung, unter dem, von dem aus er geschossen hatte, landete.
»Ross!« schrie Juliet. Fast blind vor Entsetzen und erfüllt von einer übelkeiterregenden Furcht, bemerkte sie nicht einmal, daß sie aufgesprungen war und schon losstürmte, bis Ian sie packte und grob zu Boden riß.
»Himmel, Juliet!« fluchte er. »Wenn du zu Ross willst, dann beweg dich gebückt! Du kannst ihm nicht helfen, wenn du auch erschossen wirst. Gib mir das Gewehr! Ich versuche, dich zu decken.« Er löste die Waffe aus ihren gefühllosen Fingern, dann entsicherte er die Pistole und drückte sie ihr in die Hand. »Nimm die. Vielleicht brauchst du sie.«
Wie in Trance nahm sie die Waffe, nur damit Ian sie endlich zu ihrem Mann gehen ließ. Als er sie endlich freigab, stürmte sie augenblicklich den steilen Pfad hoch, wobei sie sich gerade nur etwas abduckte.
Ian blickte seiner Schwester einen Augenblick hinterher, dann wandte er sich
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