Wilder Als Ein Traum
öffnete eines seiner Augen, sah sie böse an, und machte es dann wieder zu. »Für meine Feinde.«
Diese Antwort beeindruckte selbst eine überzeugte Zynikerin wie sie. »Wie edelmütig von Ihnen!«
»Gott möge sie mir in die Hände fallen lassen, damit ich sie vernichten kann.«
»Oh?« Tabitha war erschüttert. »Dann sind Sie also eher alttestamentarisch eingestellt?«
Er stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Vielleicht sollte ich lieber um Geduld beten.«
»Tut mir Leid«, murmelte sie. »Ich wollte Sie nicht stören.«
Nun riss er beide Augen auf und funkelte sie drohend an. »Ihr seid doch wohl keine Häretikerin? Häretiker werden bei uns nämlich verbrannt!«
»Oh, nein«, antwortete sie eilig und zog sich ein Stück von ihm zurück. »Eher gehöre ich zu den Emersonschen Transzendentalisten.«
Mit dieser Antwort konnte er offenbar rein gar nichts anfangen; also erhob er sich und band die Zügel seines grasenden Pferdes um einen dicken Baumstamm.
»Wie heißt er denn?« Tabitha beobachtete, wie Colin die samtigen Nüstern des Hengstes freundlich streichelte.
»Mylady - in der Schlacht sterben Pferde zu Tausenden, und es ist härter, sich von einem Geschöpf mit Namen zu verabschieden. Die meisten Mütter geben selbst ihren Kindern erst dann einen solchen, wenn sie so alt sind, dass ihr Überleben sicher scheint.«
Tabitha lauschte dem Ächzen des Windes in den Zweigen, sie war ergriffen von der Zerbrechlichkeit des Lebens im Mittelalter. Colin sann ebenfalls vor sich hin, und sie fragte sich, ob er vielleicht an seine kleine Schwester dachte, der er nie begegnet war. Hatte sie bei ihm einen Namen oder vergäße er sie bald so gründlich, als hätte sie niemals existiert? Ihr Drang, einen Weg vorwärts zu finden in ihre eigene Zeit, verstärkte sich. Falls sie hierzubleiben gezwungen wäre, fände sie vielleicht niemals heraus, ob ihre Eltern noch am Leben waren oder tot.
Wieder fuhr sie zusammen, als über ihren Köpfen eine Eule schrie. »Meinen Sie, dass wir hier tatsächlich außer Gefahr sind? Woher wissen Sie, dass Brisbanes Männer uns nicht finden werden?«
Colin hockte sich vor das Feuer und warf eine Hand voll Zweige in die Glut. »Wir haben bereits die Grenze nach Schottland überquert.« Angesichts seines wenig frommen Grinsens machte ihr Herz einen eigenartigen Satz. »In diesen Hügeln würden Rogers Männer selbst mit Landkarten in
den Händen nicht mal ihre Ärsche finden, das könnt Ihr mir glauben.«
Tabitha nagte an ihrer Unterlippe, damit er ihr Lächeln nicht bemerkte. Colin war definitiv nicht sonderlich auf Vornehmheit bedacht. »Als ich Brisbane gefragt habe, warum Sie beide einander derart hassen, hat er gesagt, ich solle seine Schwester fragen.«
Colins Grinsen schwand. Obgleich sich in seinen Augen die züngelnden Flammen des Feuers spiegelten, waren sie erschreckend ausdruckslos. »Das wird wohl nicht ganz einfach, denn Regan ist inzwischen seit sieben Jahren tot.«
Tabitha runzelte die Stirn. »Und wie ist sie gestorben?«
»Ich habe sie umgebracht.«
Betroffen fuhr Tabitha zusammen und wartete auf eine genauere Erläuterung. Dass er zum Beispiel sagen würde, sein Pferd hätte das arme Mädchen versehentlich zertrampelt, als es gerade auf einer Wiese Blumen pflückte. Oder sie wäre aus einem Turmfenster gestürzt, während sie ihm zum Abschied nachwinkte.
Doch Colin saß einfach reglos vor dem Feuer und überließ sie ihren Mutmaßungen.
»Aber wie haben Sie sie umgebracht? Haben Sie sie von einer Klippe gestürzt? Mit Ihrem Schwert in Stücke gehackt? Vergiftet? Wenn wir schon hier gemeinsam mitten im Nichts die Nacht verbringen müssen, wüsste ich doch gern über Ihre bevorzugte Mordmethode Bescheid.«
Das gefährliche Glitzern in Colins Augen teilte ihr mit, dass ihm ihr Sarkasmus nicht gefiel. Doch als er schließlich sprach, klang seine Stimme so leidenschaftslos, als erzähle er eine Tragödie, die vor langer Zeit einem anderen widerfahren war. »Roger, Regan und mich verband in der Kindheit eine enge Freundschaft. Ich war jung und ungestüm, Regan süß
und willig. Als wir beide siebzehn wurden, schwängerte ich sie. Sie flehte mich an, sie zu heiraten; aber ich war seit meinem siebten Lebensjahr bereits einer anderen versprochen. Ein Bruch des Verlobungsvertrages hätte für meinen Vater Krieg bedeutet, und ich hatte zunächst nicht den Mut, mich ihm zu widersetzen. Als ich schließlich zu der Hütte, in der Regan und ich uns heimlich
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