Wilder Oleander
zu unserer Tochter werden zu lassen«, sagte Mrs.Kaplan zu Abby auf dem Weg zur Tür. »Wir haben sogar ihr Geburtsdatum geändert. Ist das nicht verrückt?«
»Wie bitte?«
Mrs.Kaplan zog das Original der Geburtsurkunde, die ihr zusammen mit dem Baby ausgehändigt worden war, aus ihrer Tasche. »Wir beschlossen, den Tag, an dem sie zu uns kam, als ihr Geburtsdatum festzulegen. Sehen Sie selbst.« Sie reichte Abby das verblichene Dokument. »Tatsächlich ist Ophelia drei Tage älter.«
Ungläubig starrte Abby auf die Geburtsurkunde, die denen glich, die sie für Sissy und Coco, beide am 17 .Mai in der Nähe von Amarillo geboren, besaß. Nur dass auf dieser hier der 14 .Mai angegeben war und als Geburtsort Boston, Massachusetts.
Ophelia war nicht ihr Kind.
Eine Stunde später verabschiedete Abby die vier, die mit dem Privatjet von The Grove nach Los Angeles zurückkehrten. Obwohl sie ihnen angeboten hatte, von allen Annehmlichkeiten des Resorts Gebrauch zu machen, drängte es Ophelia, mit ihrer Familie zusammenzusein. Dass sie adoptiert worden war, musste erst einmal verarbeitet werden, auch wenn sie die Kaplans nach wie vor als die Ihren ansah. Dass man sie über die Herkunft des Babys belogen hatte, dass ihre leibliche Mutter möglicherweise keine Jüdin gewesen war, tat nichts zur Sache. »Selbst wenn ich nicht als Jüdin geboren wurde, bin ich dennoch Jüdin.«
Der Schock, nicht nur unversehens schwanger, sondern als Kind adoptiert worden zu sein, war zu viel für sie. Nur gut, dass David zum ersten Mal energisch wurde und statt eines vorsichtigen Denkanstoßes, der normalerweise mit »Tu, was du für richtig hältst« endete, sagte: »Nein. Unterdrück deine Gefühle nicht. Lass sie raus. Sei in dieser Sache mal nicht die Wissenschaftlerin, sondern einfach ein menschliches Wesen voller Gefühle.«
David, dieser Schatz. Wie sehr sie ihn liebte. »Ich war so starrsinnig und arrogant. Wie hast du das nur ausgehalten?«
Er grinste. »Weil du außerdem klug bist und tapfer und dich an deine Prinzipien hältst. Weil du im Gegensatz zu vielen anderen nichts vertrittst, wofür du nicht selbst einstehst.«
Sie hatte fürwahr einiges dazugelernt. Wenn sie in der Vergangenheit vor einer Abtreibungsklinik protestiert hatte, war ihr nicht selten vorgehalten worden, sie habe ja keine Ahnung von den Beweggründen der Frauen, die hier Hilfe suchten. Jetzt konnte sie nachempfinden, was in diesen Frauen vorging, auch wenn deren Probleme anders gelagert sein mochten und man nicht wusste, was sie veranlasste, durch jene schicksalsschweren Türen zu gehen. Ophelia hatte begriffen, dass Außenstehenden kein Urteil über die Handlungsweise
anderer zustand, sondern dass dies eine Sache zwischen jenen Frauen und Gott war.
Auch die abfällige Äußerung ihres Großvaters gab Aufschluss über so einiges. Ophelia hatte sich niemals einem genetischen Test unterzogen. Wenn man sie fragte, warum nicht, hatte sie keine Erklärung dafür gehabt. Nur David hatte gemeint, sie, die auf Erfolg und Perfektion Bedachte, sträube sich dagegen, möglicherweise zu erfahren, mit einem Makel behaftet zu sein. Jetzt aber war ihr klar, dass sich dieses »Sie ist keine von uns« ihres Großvaters tief in ihr Unterbewusstsein eingegraben hatte und deshalb zu befürchten stand, dass der genetische Test dies bestätigen würde.
War ihr mit Leidenschaft betriebenes Studium prähistorischer Hominiden etwa auch auf die Ablehnung durch den Großvater zurückzuführen? Die Tragweite dessen, was er damals gesagt hatte – die Feststellung, dass sie keinen familiären Hintergrund hatte –, konnte eine Fünfjährige wohl kaum ermessen, aber das Samenkorn war auf fruchtbaren Boden gefallen, hatte sich in ihr Unterbewusstsein eingenistet und entfaltet. Kein Wunder also, dass sie sich auf das Studium von Menschen ohne Geschichte gestürzt hatte – weil sie sich ihnen verbunden fühlte und bei ihnen sich selbst suchte.
Mit dem Versprechen wiederzukommen und in der Hoffnung, Abby möge ihre Tochter finden, verabschiedete sich Ophelia. Als das Flugzeug abhob, begleitet von Abbys besten Wünschen für Ophelia und David, wandte sich Vanessa an ihre Freundin: »Was gedenkst du jetzt zu tun? Wirst du The Grove verlassen?«
Abby schüttelte den Kopf. Sie konnte unmöglich von hier weg. So enttäuschend es auch war, dass keine der drei jungen Frauen als ihre Tochter in Frage kam, würde sie die Suche nicht aufgeben. Noch immer war irgendwo da draußen
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