Wildes Blut
Nicholas saß ab und klopfte an die Tür. Schließlich wurde die Klappe hinter dem Gitter geöffnet. Ein strenges Gesicht erschien, und eine Frau blinzelte in die helle Nachmittagssonne.
"Was wollen Sie?" fragte die Nonne ängstlich.
"Ich bin Don Lucero Alvarado. Ich muss mit der Mutter Oberin sprechen - in einer dringenden Angelegenheit."
Die kleine Nonne blinzelte wieder, dann öffnete sie ihnen die Tür und trat mit einem missbilligenden Ausdruck zur Seite.
Nick half Mercedes vom Pferd, und sie betraten den Innenhof des Klosters.
"Folgen Sie mir", sagte die Nonne förmlich, dann drehte sie sich um und ging mit steifen Schritten den staubigen Pfad entlang, der auf die Kirche zuführte. Der Innenhof wurde auf allen vier Seiten von kleinen Räumen umgeben, die an die Mauern des Konvents gebaut waren. Eine schmale Veranda mit einem Strohdach spendete ein wenig Schatten.
Mercedes sah die Auswirkungen der Epidemie, die Rosarios Mutter dahingerafft hatte. Die meisten Räume standen leer, die Türen waren offen. Wo einst ein Schulzimmer gewesen war, hatte man jetzt ein behelfsmäßiges Spital eingerichtet. Schnell warf sie einen Blick hinein. Die Holzbänke standen an der Seite, Strohmatten lagen in Reihen auf dem Boden, die meisten davon nun leer. Aber zwei Patienten litten noch unter dem Durst, der die Endphase der Cholera begleitet, und wälzten sich im Fieber unruhig hin und her.
Mercedes fragte sich, ob hier wohl Rosarios Mutter gestorben war. Dachte ihr Ehemann an seine tote Geliebte? Waren seine Gefühle für sie der Grund, warum er bereit war, sein Kind anzuerkennen? Der Gedanke, dass sie auf eine tote Frau eifersüchtig war, nagte an ihrem Gewissen, aber sie schob ihn beiseite und konzentrierte sich auf Rosario.
Es waren keine Kinder zu sehen. Wo war das kleine Mädchen? Was mochte in dem Kind vorgehen bei dem Gedanken daran, mit zwei vollkommen fremden Menschen auf eine weite Reise zu gehen? Mercedes konnte sich Lucero nicht als Vater vorstellen.
Zwei andere Nonnen in zerschlissenen grauen Gewändern unterhielten sich leise am Brunnen in der Mitte des Hofes. Ihre Stimmen wurden übertönt von dem Quietschen der Kurbel und der Seilwinde, während sie sich bemühten, den Eimer heraufzuziehen. Die Schwester Pförtnerin und ihre Schützlinge gingen am Brunnen vorbei zu einem Raum links von der Kirche.
Als die kleine Nonne kräftig an die offene Tür klopfte, antwortete die tiefe, wohlklingende Stimme einer älteren Frau.
"Was gibt es, Schwester Agnes?"
"Don Lucero ist wegen Rosario gekommen, Ehrwürdige Mutter", war die knappe Antwort.
"Führ ihn herein." Die hochgewachsene ältere Frau stand auf.
Ihre ha gere Gestalt war vom Alter ungebeugt. Sie musterte den Mann und die Frau mit ihren scharfen Augen, die in einem derben, unharmonischen Gesicht saßen. Die knollige Nase, tiefliegenden Augen und das energische Kinn verliehen ihr einen Ausdruck von Beharrlichkeit. "Ich bin die Mutter Oberin, Don Lucero. Ich hatte nicht erwartet, dass Rosarios Vater persönlich erscheint", fügte sie hinzu und wandte den Kopf zu Mercedes, während sie darauf wartete, dass er seine Begleiterin vorstellte.
Nicholas verstand ihre Andeutungen. Sie hatte den Brief an seinen Vater geschickt und erwartet, dass Pater Salvador oder einer der Bediensteten mit einem kleinen Beutel voll Münzen käme, die dem Kind den Eintritt in ein anderes Waisenhaus ermöglichen würden. "Ich nehme an, dass Sie es nicht wissen, aber mein Vater, Don Anselmo, ist vor einigen Monaten gestorben. Ich bin aus dem Krieg nach Hause gerufen worden, um meine Pflichten auf Gran Sangre wahrzunehmen."
Bei der Erwähnung vom Tode des alten Don bekreuzigte die Nonne sich. "Das wusste ich nicht. Ich werde dafür sorgen, dass man für seine Seele Fürbitten spricht." Der Tonfall, in dem sie das sagte, deutete an, dass er dessen ihrer Meinung nach dringend bedurfte.
"Unsere Familie wird Ihnen dankbar sein, Mutter Oberin.
Darf ich Ihne n meine Gemahlin vorstellen, Dona Mercedes Sebastian de Alvarado."
Die Nonne zog die grauen Brauen ein ganz klein wenig höher, ansonsten aber blieb ihr kantiges Pferdegesicht ausdruckslos. "Es ist mir eine Freude, Sie in unserem bescheidenen Konvent willkommen zu heißen, Senora." Sie deutete auf die groben Holzstühle. "Bitte setzen Sie sich. Ich kann Ihnen nur wenig als Erfrischung anbieten, fürchte ich, aber vielleicht etwas kühles Wasser?"
Nicholas dachte an die Nonnen, die sich mit dem Brunnen abmühten, und erwiderte:
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