Wildes Blut
"Vielen Dank, doch wir haben unseren Durst bereits auf dem Weg hierher gelöscht. Dürfen wir jetzt meine Tochter sehen?"
"Ich halte das nicht für klug, Senor Alvarado. Rosario leidet noch immer unter dem Tod ihrer Mutter, und ihr steht die la nge Reise nach Guayamas mit Schwester Agnes bevor. Zwei Fremde würden sie nur noch mehr aufregen. Sie können mir geben, was immer Sie erübrigen können, um ihr den Weg zu ebnen."
"Sie missverstehen mich, Mutter Oberin. Ich bin gekommen, um sie heimzuholen - nach Gran Sangre", sagte Nicholas und versuchte, geduldig zu bleiben. Der ungläubige Ausdruck, der jetzt auf dem Gesicht der Nonne erschien, machte ihm das nicht leicht.
Die alte Nonne wandte sich an Mercedes. "Ist das auch Ihr Wunsch, Dona Mercedes?"
"Jawohl. Ich bat meinen Mann, ihn hierher begleiten zu dürfen und sie nach Hause zu holen."
"Dies ist äußerst bemerkenswert - in Anbetracht der Umstände", entgegnete die Mutter Oberin trocken und sah Mercedes neugierig an.
"Kein Kind ist verantwortlich für die Umstände seiner Geburt", sagte Mercedes und wurde sich plötzlich nur zu deutlich der Gegenwart des Vaters der Kleinen an ihrer Seite bewusst. "Dürfen wir sie jetzt bitte sehen?"
"Nun gut. Sie werden feststellen, dass sie noch immer um ihre Mutter trauert, aber sie ist fröhlich und für ihr Alter von rascher Auffassungsgabe. Vielleicht wird sie Sie akzeptieren", meinte die Nonne und erhob sich.
Sie folgten ihr nach draußen und über die Veranda, bis sie zu einem langen, flachen Gebäude mit hohen kleinen Fens tern und dicken Mauern kamen. Drinnen war es kühl und sehr still. Drei Mädchen saßen in einer Ecke zusammen mit Schwester Agnes, die sie den Rosenkranz lehrte. Einst hatte der spartanisch eingerichtete Schlafraum zwanzig Kinder beherbergt, doch man hatte sie woanders untergebracht, nachdem es kaum noch Nonnen gab, die sich um sie kümmern konnten, erklärte die Mutter Oberin, als sie den dämmerigen Raum betraten. Sie rief nach Rosario. Das kleinste der drei Kinder stand auf, knickste vor Schwester Agnes, dann kam es gehorsam den langen Gang zwischen den leeren Strohmatten entlang auf sie zu.
Rosario war recht groß für ihre kaum mehr als vier Jahre, ein Erbe der hochgewachsenen Alvarado-Männer, genau wie ihr lockiges rabenschwarzes Haar. Sie bewegte sich behutsam zwischen den Decken hindurch, den ausgefransten Saum ihres groben grauen Baumwollrockes mit der kleinen Hand hochhaltend. Viel zu große Sandalen, die von Lederriemen gehalten wurden, schlackerten an ihren kleinen Füßen. Als sie vor der Mutter Oberin stehen blieb, senkte sie den Kopf.
Mercedes schloß die kleine Waise, die so gehorsam vor ihnen stand, gleich ins Herz, als die alte Nonne sagte: "Dies ist Rosario Herrera. Rosario, mach deinen Knicks vor Don Lucero Alvarado und Dofta Mercedes, seiner Gemahlin." Mehr sagte sie nicht und überließ es dem criollo, wie er sein Kind anerkennen wollte.
Nicholas stand unbeholfen da und fühlte sich vollkommen unsicher, als das Mädchen gehorchte. Wie sollte er mit einem kleinen Kind sprechen, das angeblich seine Tochter war? "Guten Tag, Rosario", sagte er leise.
Mercedes spürte seine Unsicherheit, kniete nieder und legte eine Hand auf die schmale Schulter des Mädchens. Sie lächelte die Kleine an und sagte: "Wir sind sehr weit geritten, um dich kennen zulernen. Wir möchten gern, dass du uns begleitest und mit uns auf unserer Hazienda lebst."
Rosarios kleines Elfengesicht erschien hinter dem Vorhang aus schwarzen Locken, als sie den Kopf hob. Mund und Nase waren feingeformt, und mit den hohen Wangenknochen war sie sehr hübsch. Der einzige Beweis der indianischen Abkunft ihrer Mutter war ihre goldbraune Haut. Sie sah Mercedes aus großen Augen ernst an, und die Augen waren schwarz mit silbernen Punkten. Es gab keinen Zweifel, dass sie eine Alvarado war. Sie hob die rechte Hand an den Mund, dann warf sie einen raschen Blick zur Mutter Oberin und ließ sie wieder zurücksinken in die Falten ihres formlosen grauen Hemdes.
"Ich bin dein Papa, Rosario", sagte Nicholas leise und hockte sich neben Mercedes nieder. Er war sich nicht sicher, wie viel ein Kind in diesem zarten Alter verstand. War ihr junges Leben genauso schrecklich gewesen wie das seine damals?
"Mama sagte, ich hätte keinen Papa. Sie ist jetzt tot.
Schwester Agnes hat mir erzählt, dass ich bald in einen anderen Konvent gehe, um Nonne zu werden."
"Das ist nicht nötig", entgegnete Nicholas kurz. Dann fügte er hinzu:
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