Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Seite, daneben das träge Schlängeln des Flusses Willamette sowie die kleinen Schornsteine und Chemietanks der Industriewüste. Aber der Großteil der Fläche war der Undurchdringlichen Wildnis gewidmet, abgetrennt von der restlichen Welt durch eine gepunktete Linie mit der Beschriftung: »Unüberwindbare Grenze«. Martha hatte die U . W. schon auf anderen Karten gesehen, aber immer nur als namenloses grünes Rechteck ohne jede Bezeichnung. Auf dieser Karte hatte jemand tatsächlich Details darin eingezeichnet. Eine tiefe Schlucht durchzog die Wildnis, und in der unteren Hälfte prangte ein eigenartiges Haus mit Türmchen. Oben im Norden hatte der Kartograf einen knorrigen Baum abgebildet, um den winzige Figürchen im Kreis herumstanden. Eine etwas willkürlich skizzierte Straße verband diesen nördlichen Teil mit der Grenze im Süden. Die Karte wirkte auf Martha wie das Werk eines Menschen, der an einem schlimmen Anfall von Gedächtnisverlust litt.
Martha legte das Blatt wieder weg, ging zum Zahnarztstuhl und inspizierte mit einem Kloß im Hals die verschließbaren Spangen, dann wanderte sie weiter zum Regal, um die vielen Gläser und Töpfchen zu betrachten. Murmelnd las sie die Namen ab, die in schöner Handschrift ordentlich auf den Etiketten standen: »Bovine Glandula adrenalis, Myrrhe, Belladonna, Nux Vomica – igitt. Was ist das für Zeug?« Sie nahm eines der Gläser aus dem Regal und schraubte den Deckel auf. Ein kurzes Schnüffeln, und ihre Nase war erfüllt von einem Geruch wie von einem ganzen Rudel nasser Hunde in einer Achselhöhlen-Deodorant-Fabrik. Hastig machte sie den Deckel wieder fest zu. »Verzeihung«, sagte sie.
Rachel hockte auf dem Boden und studierte die Metallkästchen mit den roten Blinklichtern. Martha kniete sich neben sie. Auf jedem Kästchen war eine Art Anzeige, durch eine Glasscheibe geschützt. Sie erinnerten Martha an Tankuhren, nur dass die Nadel bei allen dort stand, wo beim Auto die Position LEER wäre. In einem Bogen verlief eine dünne schwarze Linie über die Anzeigen, die mit Zahlen versehen war: 1–1,5–3 – 5–10. Gelegentlich zitterte eine der Nadeln leicht, und dann flackerte das trübe rote Lämpchen darunter auf. Über den Anzeigenfenstern befand sich jeweils ein kleines Quadrat aus weißem Klebeband mit zwei Buchstaben darauf. H . K., stand auf einem, G . W. auf einem anderen.
»Das ist alles total verwirrend«, stellte Martha fest. Rachel blieb stumm, sie tippte sich nur nachdenklich mit dem Finger auf die Oberlippe. Plötzlich leuchteten ihre Augen auf, und sie zeigte auf eines der Kästchen.
»Sieh dir das an!« Auf dem Etikett stand C . R., und die Buchstaben war deutlich weniger verblasst als die auf den anderen. Als wären sie erst vor Kurzem geschrieben worden.
»Was denn?«, fragte Martha.
»Was glaubst du, wofür das steht?«
Martha rätselte. »Cholerischer Roboter?«
Rachel verdrehte die Augen. »Das sind Anfangsbuchstaben.« Sie klopfte mit dem Finger auf das Klebeband. »Das muss Carl Rehnquist bedeuten!«
Ein eisiger Schauer kroch Martha den Rücken hinunter. Forschend suchte sie die anderen Kästchen mit den zitternden Nadeln und den blinkenden roten Lämpchen ab, und einen nach dem anderen entschlüsselte sie die Namen. »Harold Klein«, begann sie. »Leslie Brumm. J…Josh? Josh Tennyson. Greg Wheeler, Cynthia … Smith? Nein: Schmidt. Cynthia Schmidt.« Alle fielen sie ihr wieder ein, alle Namen. »O mein Gott, Rachel. Das sind die ganzen Unadoptierbaren. Zumindest seit ich hier bin. Wahrscheinlich noch einige von vorher.«
Genau in diesem Moment erklang ein Geräusch im Korridor. Martha und Rachel warfen einander einen schnellen Blick zu, als der Türknauf sich drehte, und hechteten unter den Schreibtisch. Zum Glück knarrte die Tür so laut, dass sie das Poltern übertönte. Unter dem Tisch kauerten die beiden Mädchen sich zusammen und lauschten den Schritten, die in die Raummitte führten und dann stehen blieben. »Hallo?« Es war der alte Mr. Grimble, der Nachtwächter. »Mr. Unthank?«
Martha und Rachel wagten nicht zu atmen.
Mr. Grimble grummelte (das war sein Markenzeichen, das Grimble-Grummeln nannten die Kinder es, und es klang wie das Grunzen eines Bären im Winterschlaf mit verstopfter Nase). Er sah sich um, und als er nichts entdeckte, machte er kehrt, ging wieder hinaus und schloss die Tür geräuschvoll hinter sich. Martha und Rachel warteten, bis seine Schritte verhallten, und erst dann atmeten sie aus.
»Bloß
Weitere Kostenlose Bücher