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Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Meloy
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Wald.
    Prue kämpfte gegen das Weinen an; sie spürte, wie die Schluchzer aus der Magengrube aufstiegen, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. Sie umklammerte ein Grasbüschel und quetschte es zusammen, während sie sich mit aller Kraft zu beherrschen versuchte. Mit der Zunge befühlte sie die Stelle an der Lippe, auf der ein kleiner Blutstropfen hing, und leckte ihn ab. Die Luft war still und das Licht matt, denn die frühe Nachmittagssonne wurde langsam schwächer. Prue dachte an die Nachricht, die sie ihren Eltern hinterlassen hatte. Sind bald zurück . Trotz ihrer schlimmen Lage konnte sie sich ein kurzes,
ironisches Lachen nicht verkneifen. Mühsam richtete sie sich auf, setzte sich auf den Rand der Schlucht und klopfte sich den Schmutz von den Knien ihrer Jeans. Da steckte plötzlich ein Eichhörnchen seinen Kopf hinter einem morschen Baumstumpf hervor und sah sie fragend an.
    »Was willst du, Eichhörnchen?«, fragte Prue spöttisch und kicherte in sich hinein. »Wahrscheinlich sollte ich besser aufpassen, was ich sage. Du kannst vermutlich auch sprechen. Oder?«
    Das Tier sagte nichts.
    »Super, ehrlich gesagt erleichtert mich das.« Sie stützte das Kinn in die Hände. »Allerdings könntest du auch einfach nur von der stillen Sorte sein.«
    Prue sah sich um und wandte sich dann wieder an das Eichhörnchen. Es hatte den Kopf schief gelegt und musterte sie. »Also, was jetzt?«, fragte Prue. »Mein Bruder wurde von Vögeln entführt. Mein Schulfreund wurde von Kojoten gefangen.« Sie schnippte mit den Fingern. »Und, fast hätte ich’s vergessen: Mein Fahrrad ist kaputt. Klingt fast wie in einem Countrysong. Einem sehr, sehr seltsamen Countrysong.«
    Plötzlich richtete sich das Eichhörnchen auf und spitzte die Ohren. Durch die leise Brise in den Baumkronen drang ein unerwartetes Geräusch: das Brummen eines Automotors. Als es lauter wurde, machte das Eichhörnchen einen Satz und verschwand. Prue sprang auf und rannte durch das Gestrüpp und die herabgefallenen Äste
auf das Brummen zu. »Halt!«, rief sie. Der Wald war hier besonders dicht und der Abhang so steil, dass Prue weniger lief als vielmehr verzweifelt dahin torkelte. Als vor ihr eine Hecke aus Brombeersträuchern auftauchte, hechtete sie kurzerhand hinein. Sie spürte, wie die Dornen an ihrer Jacke und ihren Haaren rissen. Mit geschlossenen Augen kämpfte sie sich durch die Büsche, schlug mit den Armen die stacheligen Zweige so lange beiseite, bis sie unvermittelt aus ihren Klauen befreit war und vornüber auf das erste flache, freie Stückchen Boden kippte, das sie seit Betreten des Waldes gesehen hatte. Sie hob den Kopf und stellte fest, dass das, worauf sie lag, wie eine Straße aussah. Und auf dieser Straße näherte sich rasch etwas, das wie ein Lieferwagen aussah. Prue rappelte sich auf und wedelte wild mit den Armen. Der Fahrer stieg prompt auf die Bremse, sodass die Reifen des Fahrzeugs auf der unbefestigten Straße kräftig ins Schlittern kamen.
    Es war ein knallroter Kleintransporter, der eindeutig schon bessere Tage gesehen hatte. Zwar ließ sich sein Alter nicht genau feststellen, aber dem Rost und den Kratzern nach zu urteilen hatte er einiges mitgemacht. Auf der Seite des Wagens prangte ein seltsames Wappen, das Prue nicht erkannte.
    Noch während sie dieses mysteriöse Gefährt ungläubig betrachtete, hörte sie ein unverkennbares Klick – das Geräusch eines Gewehrs, dessen Hahn gespannt wird. Das Fenster auf der Fahrerseite wurde hastig heruntergekurbelt, und eine graue Halbglatze
tauchte hinter dem Visier einer wuchtigen Doppelflinte auf, die aussah wie aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg.
    »Eine falsche Bewegung, Fräuleinchen, und ich brenn dir ein paar Löcher in den Pelz«, knurrte der Mann.
    Prue riss die Hände hoch.
    Vorsichtig senkte der Fahrer das Gewehr etwas und blickte Prue verdutzt an.
    »Bist du …«, stotterte er, »bist du etwa aus der Außenwelt? «
    Prue wusste nicht genau, wie sie darauf reagieren sollte; die Frage war doch ziemlich seltsam. Nach einer kurzen Pause riskierte sie eine Antwort: »Ich wohne in St. Johns in Portland.«
    Jetzt senkte sich die Flinte noch weiter und viel weniger bedrohlichnach unten, und Prues pochender Puls beruhigte sich etwas. »So nennt ihr das?«, fragte der Mann in dem Lieferwagen.

    »Eigentlich schon«, gab Prue unsicher zurück.
    Der Fahrer starrte sie immer noch entgeistert an. »Unfassbar«, sagte er. »Einfach unfassbar. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal einem

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